Wanderausstellung zur Inklusion: Inklusion ist mehr als eine Rampe

Im Berliner Abgeordnetenhaus macht die Ausstellung „Inklusion im Blick“ Station. Mit Kunstwerken, die auch für den Tastsinn gedacht sind.

Ein mann mit Brille steht vor einem Kunstwerk zum Anfassen

Ein tastbares Kunstwerk von Daria und Sarah Nonn Foto: Abgeordnetenhaus Berlin

Inklusion ist mehr, als nur eine Rampe für Rollstuhlfahrer im Treppenhaus zu installieren. Das jedenfalls wird in der Wanderausstellung „Inklusion im Blick“ deutlich, die derzeit auf der fünften von geplanten 21 Stationen im Berliner Abgeordnetenhaus zu sehen ist.

Für die Ausstellung selbst muss man durch das gewaltige Treppenhaus des einstigen Preußischen Landtags gehen und im ersten Stock in die Wandelhalle gelangen. Das erste Ausstellungsstück dort, die Skulptur „Gratwanderung“ des Künstlers Herbert Höcky, weist gleich auf das Treppen- und Barriereproblem hin.

Mehrere rechtwinklige Körper sind locker über­einandergeschichtet und aneinandergelehnt. Es ist ein Wirrwarr kantiger Objekte, die sich je nach Entfernung und Perspektive zu neuen Körperkonstellationen zusammenfügen. Die eckigen Körper weisen außerdem darauf hin, dass die Erhabenheit ausstrahlenden Treppenanlagen einstiger Adelssitze und Repräsenta­tions­orte alter und neuer Bürgerlichkeit vor allem eines haben: Ausschlusscharakter. Wer nicht autorisiert ist und wer körperlich nicht dazu in der Lage ist, die Stufen zu bewältigen, muss draußen bleiben.

Sehr viele Menschen

Die Ausstellung bezieht sich auf das zehnjährige Jubiläum der Ratifizierung der UN-­Behindertenrechtskonvention. 2006 wurde sie bei der UN-Vollversammlung vorgestellt, 2009 in Deutschland ratifiziert und 2010 auch formal von der Europäischen Union angenommen. Sie soll die am schnellsten bearbeitete Konvention aller Zeiten sein; nur etwa vier Jahre dauerten die Beratungen. Das zeigt zumindest, dass es sich dabei um ein internationales Konsensthema handelt.

Inklusion im Blick, bis 27. August im Abgeordnetenhaus Berlin, Niederkirchner­straße 5, Mo.–Fr. 9–18 Uhr.

Der Anteil von Menschen mit Behinderung an der Weltbevölkerung betrug 2011 laut einer damals erschienenen Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 15 Prozent; das entsprach etwa 1 Milliarde Menschen. Für die Bundesrepublik Deutschland gab das Statistische Bundesamt für 2017 einen Anteil von 9,4 Prozent an; rund 7,8 Millionen Menschen gelten hierzulande als schwerbehindert.

Es handelt sich also um sehr viele Menschen. Die Konvention soll ihnen die Achtung ihrer Persönlichkeit sowie ihrer individuellen Autonomie garantieren, Diskriminierung verhindern, volle Teilhabe an der Gesellschaft sichern und Chancengleichheit herstellen. Behinderung wird in der Konvention nicht als eine Summe körperlicher und physiologischer Merkmale definiert, sondern es wird erklärt, dass „Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren“ entstehe.

Eine Frage der Beziehung

Als Behinderung gilt demnach nicht das Fehlen eines Beins, die Funktionsstörung eines Auges oder eine herabgesetzte Intelligenz, sondern die Art der Beziehung, die zwischen Menschen untereinander, mit Behinderung wie ohne, und ihrer Umwelt entsteht. Behinderung ist also vor allem ein Merkmal der Interaktion, der Qualität oder eben Nichtqualität von Interaktionen.

Die Ausstellung setzt ebendort an. Die dreidimensionalen Kunstwerke dürfen angefasst werden, die zweidimensionalen Arbeiten von Molly Noebel, Christoph Noebel, Marko Berg und Daria & Sarah Nonn werden von tastbaren Reliefs begleitet, die der Bildhauer Armin Hilger mithilfe eines 3-D-Druckers erstellt hat. Diese Kunst ist auch denen zugänglich, die nur wenig oder gar nicht sehen können.

Für die Stills aus dem Film „NoBody’s Perfect“ von Niko von Glasow gibt es derlei Ergänzungen nicht. Von Glasow, selbst contergangeschädigt, fertigte für seinen Film Aktaufnahmen von sich und anderen contergangeschädigten Menschen mit charakteristischen Fehlbildungen insbesondere der Arme an. Ober- und Unterarme sind verkürzt, manchmal scheint gar ein Teil des Arms zu fehlen.

Mangelnde Sorgfalt

Die Porträtierten sehen jedoch nicht etwa leidend aus. Sie wirken vielmehr stolz oder fröhlich, nachdenklich oder verspielt. Es sind Menschen, die ihren Platz im Leben gefunden haben. Das zumindest strahlen die Bilder aus. Den Film, der 2009 mit dem Deutschen Filmpreis als „Bester Dokumentarfilm“ geehrt wurde, kann man in der Ausstellung nicht sehen. Der in etwa 4 Meter Höhe angebrachte Monitor bleibt schwarz. Ein ­Zeichen für die Lieblosigkeit, mit der die Ausstellung in die Wandelhalle gebracht wurde. Im Titel eines Kunstwerks findet sich ein Schreibfehler. Noch so ein Zeichen.

Die wenigen Abgeordneten, die sich am Freitagnachmittag überhaupt noch im Abgeordnetenhaus aufhalten, nutzen die Wandelhalle wie gewohnt als Ort für laute Telefongespräche und lassen sich nicht dabei erwischen, einen Blick auf die Kunstwerke zu werfen. Im alltäglichen Blick ist Inklusion also nicht, trotz des optimistischen Ausstellungstitels.

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