Zukunftstal im Wandel

Einst war es eine „Kolonie“ für Berliner Wohnungslose, heute ist Lobetal bekannt für seinen Biojoghurt sowie für seine sozialen und inklusiven Einrichtungen. Zu Besuch in einer Idylle zu Wahlkampfzeiten

Ein Mitarbeiter der Lobetaler Bio-Gärtnerei – ein Betrieb für Menschen, die mehr Ruhe brauchen Foto: Christine Brandt

Von Stefan Hunglinger

Das ist ein ganzes Stück weit von hier, das liegt ja mitten im Wald“, sagt der Mann am Bahnhofsplatz in Bernau auf die Frage nach dem Ortsteil Lobetal. Und wirklich, sieben Kilometer nördlich vom Stadtzentrum gibt es erst mal nichts als Kiefernwald. Von hier also kommt der berühmte Lobetaler Biojoghurt, hier also finden Menschen mit Behinderung spezielle Wohnangebote und Arbeitsplätze in der Landwirtschaft.

Der Mechesee glitzert zwischen den Bäumen, eine sachliche Kirche, Backsteinbauten sind zu sehen. „Martin-Luther-Haus“, „Paul-Gerhard-Haus“ – auch die Straßen in Lobetal tragen evangelische Namen. Der Eindruck: märkisch-protestantische Idylle, fast wie zu Fontanes Zeiten. Doch an den Laternenmasten erinnern die Wahlplakate der Freien Wähler daran, dass man sich im Jahr 2019 und wenige Wochen vor der Brandenburger Landtagswahl befindet. „Für Bürger statt Eliten! Gesunder Menschenverstand!“ steht dar­auf. Wie verhält sich die abgeschiedene Idylle, wie verhalten sich die ökosozialen Einrichtungen in Lobetal, zum Politischen?

„In der Gesellschaft verändert sich etwas, auch hier in Brandenburg“, sagt Wolfgang Kern, Sprecher der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal bei einem Rundgang durchs Dorf und meint damit die Rechten, die ihm zufolge auch in den Reihen der Freien Wähler vorkommen. „Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass jeder Mensch mit Respekt und Würde ausgestattet ist.“ Dafür stehe aber Lobetal mit seinen christlichen Grundsätzen, erklärt Kern. „‚Dass ihr mir niemanden abweist!‘ war das Motto von Friedrich von Bodelschwingh, dem Gründer, erzählt er später und deutet auf die Jesus-Skulptur mit ausgebreiteten Armen, die unweit des Stiftungsgebäudes steht und diesen Grundsatz ausdrücken soll.

1905 gegründet war Lobetal zunächst eine „Kolonie“ für arbeits- und wohnungslose Berliner. Mit dem Projekt wollte der protestantische Pastor und preußische Abgeordnete Bodelschwingh in Hoffnungsthal, wie die Gründung zuerst hieß, eine kirchliche Antwort auf die soziale Frage und die erstarkende sozialistische Arbeiterbewegung geben. „Arbeit statt Almosen“ war damals die Devise und versprach verelendeten Männern für ihren Einsatz in der Land- und Forstwirtschaft der „Anstalten“ eine gute Ernährung und eine private Schlafkoje – im Vergleich zu den Berliner Massenunterkünften ein attraktives Angebot. Lobetal wuchs und wurde 1929 eine eigenständige politische Gemeinde. Anstaltsleitung und Bürgermeisteramt waren in Personalunion vereint.

Am 1. September sind Landtagswahlen. Und weil Brandenburg für viele BerlinerInnen ganz schön weit weg ist, sehen wir mal genauer hin, es knirscht: wo das Alte mit dem Neuen kämpft, wo es stagniert, wo es boomt, wo die Menschen weggehen oder wohin sie zurückkehren, wo sie auf dem Althergebrachten bestehen oder etwas Neues versuchen.

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Doch nicht nur als Zufluchtsort für Wohnungslose hat Lobetal politische Geschichte gemacht. 1990 kamen der frühere SED- und Staatschef Erich Honecker und seine Frau Margot, zuvor Bildungsministerin der DDR, im Haus des Lobetaler Pfarrers unter. Vor den Anfeindungen wütender Bürger*innen sollte das Kirchenasyl die beiden schützen. In den Jahrzehnten zuvor hatte sich Lobetal von der „Arbeiterkolonie“ zum Zentrum für Menschen mit Behinderung und Epilepsiekranke in der DDR entwickelt.

Heute ist der 700-Seelen-Ort – 2002 eingemeindet nach Bernau – die Zentrale von Einrichtungen der Alten-, Sucht-, Kinder- und Jugendhilfe, nicht nur hier im Dorf, sondern verteilt über ganz Brandenburg und drei weitere ostdeutsche Bundesländer. Über 3.000 Plätze bietet die Stiftung insgesamt an. Insbesondere die Betriebe für Menschen mit Behinderung sind bekannt, darunter eine Milchwirtschaft, eine Kreative Werkstatt, eine ökologische Gärtnerei und die Biomolkerei. Auch Geflüchtete sind in den letzten Jahren in Lobetal untergekommen und konnten teils Arbeit in den Einrichtungen finden.

„Bis vor 30 Jahren waren wir noch eine Insel“, sagt Hans-Günther Hartmann, Chef der Milchwirtschaft, Ortsvorsteher von Lobetal und Vorsitzender des Fördervereins der Stiftung in Personalunion, „aber wir öffnen uns mehr und mehr“.

Das aktuelle Lobetal-Magazin, das im Empfangshaus ausliegt, berichtet von dieser Öffnung und auch von den letzten politischen Besuchen hier. Landtagspräsidentin Britta Stark (SPD), der Cottbusser Bürgermeister Holger Kelch (CDU) und die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock sprachen im Juni beim Jahresfest. „Wenn es um Zukunftsfragen geht, können wir von Lobetal vieles lernen“, wird Stark im Heft zitiert.

Die Parteien der drei Po­li­ti­ker*innen wie auch die von Bernaus Bürgermeister André Stahl (Linke) sehen sich mit Umfragen konfrontiert, nach denen die AfD am 1. September als stärkste Kraft aus der Landtagswahl hervorgehen könnte. Gilt den Politiker*innen die ökosoziale Wirtschaftlichkeit Lobetals als Modell für den ländlichen Raum in Brandenburg? Flüchten sie im Wahlkampf in diese Idylle, weil sie die Wutbürger*innen ohnehin nicht mehr erreichen können?

„Die Wähler machen auch die Politiker politikverdrossen“

Sabine Buder, CDU Biesenthal

Günther Krug befindet sich in einer Krise nicht parteipolitischer Art. Er lebt und arbeitet seit den 80er Jahren in Lobetaler Einrichtungen. Gerade sitzt er an seinem Maltisch in der Kreativen Werkstatt und experimentiert mit Erdpigmenten in dunklen Tönen. „Herr Krug ist in einer kreativen Krise. Deshalb probieren wir neue Techniken aus“, erklärt die Kunsttherapeutin Ana Furelos, die hier unterstützend arbeitet. Im Galerieraum der Werkstatt kann man sehen, wie Krug vor der Krise gemalt hat: Großformatige Bilder mit leuchtenden Farbstreifen hängen dort. „Manche Künstler kommen nach der Arbeit hier her, manche sind schon in Rente. Aber wir sind keine bloße Freizeitwerkstatt“, erklärt Furelos. Sie erzählt, dass die Bilder, die hier entstehen, in Bernau und Berlin ausgestellt und verkauft werden. „Sogar ein Museum in Serbien möchte jetzt Bilder von uns haben.“

Das Gespräch wird unterbrochen von Wolfgang Seeber von der Lobetaler Biogärtnerei. Er und zwei Kollegen fahren wie jeden Dienstag und Freitag mit einem Handwagen durch den Ort und verkaufen ihre Produkte an die Mitarbeitenden. Ana Furelos zeigt sich begeistert über die gelben Tomaten, die heute zu haben sind.

Auf drei Hektar Land und 700 Quadratmetern Gewächshausfläche wird in Lobetal Gemüse angebaut. „Wir haben vor allem alte Sorten, keine Hybride“, erklärt Henrik Wolf, der die Gärtnerei leitet. „Unsere Spezialität ist der Spargel, den wir ohne Folie anbauen, und unsere Kartoffeln. Die werden auch in der Markthalle Neun in Berlin verkauft“, erzählt der studierte Geograf, der zuvor im Ökodorf Brodowin gearbeitet hat.

Auch Obstbäume wurden damals gepflanzt Foto: Hoffnungstaler Stiftung Lobetal

Neben Wolfgang Seeber arbeiten hier noch etwa 60 Beschäftigte. „Wir sind der Lobetaler Betrieb für Menschen, die mehr Ruhe brauchen, die Steppenwölfe. Bei uns kann jeder in seiner Ecke des Feldes arbeiten“, erklärt Wolf. Besonders für Suchtkranke und Au­tist*innen habe die ruhige Gartenarbeit Vorteile.

Wie Henrik Wolf hat auch Reinhard Manger früher für Brodowin gearbeitet. Seit fünf Jahren leitet der gebürtige Schwarzwälder jetzt die Lobetaler Molkerei im nahe gelegenen Biesenthal, in der 36 Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten. Neben dem Laden-Café in Biesenthal werden auch Supermärkte und Berliner Restaurants und Kitas von der Bio-Molkerei beliefert. „Durch die Krise der konventionellen Landwirtschaft wurde vieles hier in der Gegend aufgegeben“, erzählt Manger. 2005 sei die Landwirtschaft in Lobetal auf biologischen Betrieb umgestellt worden. „Wir konnten durch eine eigene Wertschöpfungskette und die integrative Arbeit die Landwirtschaft erhalten.“ Allerdings erkennt Manger eine Skepsis gegenüber mittlerem Unternehmertum in der Region. Schon in Brodowin habe er erfahren, wie argwöhnisch initiatives Unternehmertum – zumal ökologisches – von vielen im Landkreis Barnim aufgenommen wird. „Sind wir denn schon Elite?“, fragt der Molkereileiter.

Manger erzählt auch, dass am Nachmittag wieder politischer Besuch ansteht. Und wirklich, wenig später halten der CDU-Spitzenkandidat Ingo Senftleben und seine „Bock auf Brandenburg“-Wahlkampfgruppe mit Fahrrädern am Ladencafé. Organisiert haben den Besuch in Biesenthal Bürgermeister Carsten Bruch und Sabine Buder aus dem CDU-Ortsverband. „Ich schwärme für Herrn Senfleben“, sagt Buder. Er stehe für Erneuerung in der Partei, wollte auch die Wahlliste paritätisch und aus allen Wahlkreisen besetzen, erklärt die Tierärztin. Bis vor zwei Jahren habe sie noch SPD und Grüne gewählt, als sie aber – auch in Reaktion auf das Erstarken der AfD in Brandenburg – politisch aktiv geworden sei, habe sie sich entschieden, dies in der CDU zu tun.

Trifft man denn am Lobetaler Biocafé die Menschen, die potenziell die AfD wählen? „Ja, hier kommen tatsächlich eher die zugezogenen Ökos hin“, meint Buder. „Man kann hier eigentlich schon von Parallelgesellschaften sprechen, von zwei Schichten. Deshalb bin ich in die CDU gegangen, weil die noch am ehesten die Brücke zwischen diesen Schichten schlagen“, erzählt die Urbiesenthalerin.

„Es geht nicht darum, eine Antwort auf die AfD zu finden, sondern auf die Bedürfnisse der Menschen“, erklärt Senftleben am Rande des Molkereibesuchs. Er wolle die Rahmenbedingungen für das Handwerk stärken und Studienabschlüsse einfacher machen. Auch Handyempfang und schnelles Internet möchte er überall in Brandenburg garantieren.

Die Zeit drängt, Senfleben und seine Fahrradgruppe müssen weiter zum nächsten Termin in Biesenthal, zum Verbandstoff-Hersteller TZMO, einen wichtigen Arbeitgeber im Ort. Müde sieht Senftleben aus, der wochenlange Wahlkampf zehrt offenkundig. „Es wird immer gesagt, dass die Politiker die Menschen politikverdrossen machen. Ganz ehrlich, die Wähler machen aber auch die Politiker politikverdrossen“, sagt Sabine Buder und steigt aufs Rad.