Politische Bildung in Brandenburg: „Die Auseinandersetzung suchen“
Martina Weyrauch, Chefin der Brandenburger Landeszentrale für politische Bildung, fordert Achtung auch vor „denen, die wütend sind“.
taz: Frau Weyrauch, dreißig Jahre nach dem Mauerfall ist ostdeutsche Identität wieder ein Thema. Bei Ihnen auch?
Martina Weyrauch: Ich habe vor allem in den neunziger Jahren sehr intensiv gespürt, dass ich Ostdeutsche bin. Dann hatte es sich wieder etwas gelegt, aber gerade in letzter Zeit ist es wieder stärker geworden.
Warum?
In den neunziger Jahren wollten viele Menschen etwas aufbauen, sind aber gleichzeitig mit dem materiellen Notstand konfrontiert worden. Auf der anderen Seite haben Leute, die gut situiert waren, sehr abfällig auf den Osten geguckt.
Das hat dann eine Gegenreaktion hervorgerufen.
Ja. Wir spürten Verachtung, wenn zum Beispiel von „maroden Betrieben“ die Rede war. Viele Ostdeutsche hatten dann den Eindruck, sie seien selbst daran schuld. Einerseits schämte man sich für diese Verachtung, man versuchte aber auch, den Stolz in sich selbst zu aktivieren. Das war eine Trotzreaktion.
Ging es Ihnen selbst auch so?
Wir wussten, dass unsere Abschlüsse alle nichts wert sind. Ich als Juristin habe sofort 1990 ein halbes Jahr in Trier verbracht und mich dort in das Westrecht eingearbeitet. Mir war klar, dass ich mit meinem Abschluss nicht weit komme. In meiner Familie wurden damals alle arbeitslos. Aber wir haben es am Ende geschafft. Meine Mutter hat mit 54 Jahren noch mal angefangen zu studieren, mein Vater hat sich neu orientiert. Die haben gesagt, wir wollen die Freiheit: Was wir nicht mehr wollen, ist diese unterdrückte und verdruckste Sicherheit.
wurde 1958 in Ostberlin geboren und studierte Jura an der Humboldt-Universität. Sie promovierte in internationalem Straf- und Völkerrecht. 1990 war sie an den Beratungen zum 2+4-Vertrag beteiligt, bevor sie bis 1997 Referentin des brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe (SPD) wurde. Seit 2000 leitet sie die Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung in Potsdam. Weyrauch lebt in Berlin.
Gilt das für alle Generationen, die die Wende erlebt haben?
Ich erinnere mich noch, wie meine Tochter Anfang 1991 zu mir sagte: Mama, wenn keiner mehr sagt, was wir zu tun haben, was machen wir denn da? Meine Tochter war da neun Jahre alt. Da hab ich zu ihr gesagt, dass müssen wir uns selber überlegen, was wir machen. Die Kinder hatten schon eine unheimliche Sensorik. Meine Tochter gehört heute zur so genannten dritten Generation Ost, auch die musste diesen Kompass finden.
Und warum ist diese Selbstzuschreibung Ostdeutsche jetzt wieder so wichtig geworden?
Der Umbruch 1989/90 lief ja nicht so, dass er irgendwann zu Ende war, und alles war gut. Transformations- und Krisenprozesse wird es immer wieder geben. In den Osten ist viel Geld geflossen, die Städte und Dörfer sehen gut aus. Gleichzeitig fühlen sich viele abgehängt. Und wir sehen, wie durch die Wirtschaftskrise und die Eurokrise und den Zulauf der geflüchteten Menschen zu uns neue Umbruchprozesse passieren. Und da kam die AfD und war auf einmal ein Kristallisationspunkt für Unzufriedene, die auch die Demokratie abschaffen wollen. Was wir aber brauchen, sind immer wieder Antworten, die diese Krisen in Neues verändern.
Jetzt heißt es: Die undankbaren Ossis wählen alle AfD.
Undankbar geht ja noch.
Der Todesstoß für die Demokratie der Bundesrepublik kommt vom Osten.
Aufsehen erregte Weyrauch, als sie 2015 den Auftritt von Pegida-Chef Lutz Bachmann in den Räumen der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen kritisierte. „Ich schäme mich wahnsinnig“, schrieb sie damals auf Facebook. Darauf antwortete der damalige AfD-Fraktionschef in Brandenburg, Alexander Gauland: „Vielleicht müssen die politischen Verantwortlichen in Brandenburg Frau Weyrauch aufzeigen, was politische Bildung bedeutet. Politische Bildung muss zuallererst von politischer Neutralität geprägt sein.“ Ihrer Position in Brandenburg hat das nicht geschadet, auch wenn die AfD im Kuratorium der Landeszentrale sitzt. „Alle anderen Parteien haben sich hinter mich gestellt“, so Weyrauch. „Es gibt da einen starken Rückhalt.“
Wie vielfältig Brandenburg ist, zeigt das 2015 von der Landeszentrale herausgegebene „Brandenbuch. Ein Land in Stichworten“. (wera)
Genau. Und da ist es interessant, dass man jetzt ganz anders auf gesellschaftliche Entwicklungen blickt. Man weiß, was man alles geschafft hat. Weiß, wie die Prozesse laufen und kann das auch erklären.
Es gibt also keine Sehnsucht zurück zur DDR?
Nein, das ist eher das Gefühl, dass wir alle einen Prozess durchgemacht haben, der uns viel Kraft gekostet hat. Aber wir stehen zu diesem Prozess und sind stolz darauf, dass wir den durchgemacht haben.
77 Prozent der Westdeutschen sagen, die Demokratie ist die beste Staatsform, aber nur 42 Prozent der Ostdeutschen sind dieser Meinung.
Ich bin da sehr skeptisch, was diese Umfragen betrifft. Ich bin auch deswegen bei allen Studien sehr skeptisch, weil da oft auch Antworten provoziert werden, die so nicht gemeint waren.
Jetzt sind wir bei der politischen Bildung. Bis 1997 waren Sie persönliche Referentin des damaligen Brandenburger Ministerpräsidenten Manfred Stolpe von der SPD. Dann haben Sie aufgehört. Warum?
Stolpe hatte mich gebeten, auch die nächste Legislaturperiode bei ihm zu arbeiten. Ich wollte aber wieder als Referentin arbeiten und meine Fachkompetenz erweitern. Wenn man keine eigene Kompetenz mehr hat, sondern nur die geliehene eines Ministerpräsidenten, dann wird man irgendwann in eine Abstellkammer gesteckt. Als dann hier die Stelle ausgeschrieben wurde, habe ich mich beworben.
Was bedeutet politische Bildung in Zeiten des wachsenden Rechtspopulismus?
Politische Bildung als Feuerwehr zu betrachten ist immer falsch. Wir haben ein Konzept entwickelt, wo der größte Anteil des Budgets, das sind jetzt 500.000 Euro, in die Tiefe des Landes fließt. Wir sind nicht der demokratische FDJ-Zentralrat, der den Leuten sagt, was richtig und was falsch ist. Unser Konzept ist es, dafür einzutreten, dass Menschen zu politischem Engagement ermutigt werden. Die Mittel gehen an freie Träger politischer Bildung, die vor Ort am besten wissen, was nottut. Politische Bildung zu machen heißt für uns in erster Linie, Zivilgesellschaft zu entwickeln.
Was heißt das für Sie konkret, Zivilgesellschaft?
Zivilgesellschaft ist zunächst das, was unter Diktaturen geknebelt wird. Für viele ist diese Knebelei aber auch gemütlich. Zumindest für die Masse der Bevölkerung. Es ist immer nur ein kleiner Teil, der Bücher schreiben will, seine Meinung frei äußern will. Die Masse ist eigentlich froh, dass sie sagen kann: Der Staat ist schuld, dass es mir so schlecht geht. Ich kann ja gar nichts machen. Das ist das schlimmste Ergebnis einer Diktatur, weil es verheerende Konsequenzen für die Zivilgesellschaft hat.
Wie stellen Sie sich dem entgegen?
Indem wir dazu ermuntern, etwas auf die Beine zu stellen. Viele rufen an und fragen, ob wir nicht bei ihnen vor Ort etwas machen können. Dann sagen wir, nein, machen wir nicht. Ihr könnt das selber machen. Wir bringen das Geld mit und beraten euch, wir geben euch die Instrumente in die Hand, aber ihr müsst es alleine tun. So kommt es, dass 200 verschiedene kleine Vereine politischer Bildung entstanden sind, die sich vor Ort engagieren.
Auf der anderen Seite gibt es immer noch Orte, in denen es gar keine Zivilgesellschaft gibt.
Wir können unterstützen, aber wir können da, wo nichts ist, auch nichts initiieren, da stoßen wir auch an unsere Grenzen.
Der Siegeszug der AfD in Sachsen wird oft damit begründet, dass das Land auf dem rechten Auge blind gewesen sei und die Existenz von Rechtsradikalismus geleugnet habe. Das alles kann man Brandenburg nicht vorwerfen. Dennoch hat die AfD bei den Wahlen am 1. September gute Chancen, stärkste Partei in Brandenburg zu werden.
Wir haben in Brandenburg andere Konzepte gehabt als in Sachsen und früh das „Handlungskonzept Tolerantes Brandenburg“ entwickelt. Das zielt darauf, die Menschen, die die Demokratie bejahen, zu stärken. Denn die Aktiven arbeiten in einer Art und Weise, wie man es sich im Westen vielleicht gar nicht vorstellen kann. Wir haben dünn besiedelte Regionen, einen ländlichen Raum, wo jeder, der sich engagiert, fünf, sechs, sieben, acht Funktionen hat. Die Leute, die aktiv sind, fallen fast um. Da sind viele in meinem Alter, das ist die Transformationsgeneration. Dann kommt ein riesiger Schnitt. Das hat damit zu tun, dass ganze viele junge Leute weggegangen sind, vor allem junge Frauen.
Braucht ein Land wie Brandenburg nicht auch einen anderen Politikstil? René Wilke, der linke Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder), hat in seinem Wahlkampf gezeigt, dass Zuhören und lösungsorientiertes Vorgehen von den Wählerinnen und Wählern honoriert wird.
Interessanterweise glaube ich, dass es diesen neuen Politikstil nicht nur in Ostdeutschland gibt. Ich sehe zum Beispiel bei einem Ministerpräsident Daniel Günther in Schleswig-Holstein ähnliche Ansätze wie bei René Wilke. Oder beim Potsdamer Oberbürgermeister Mike Schubert. Alle drei verkörpern einen Politik- und Kommunikationsstil, wie ich ihn sehr befürworte. Wilke sagt zum Beispiel, wir haben soundso viele Probleme in der Stadt, und jede Woche veröffentlicht er die Zahl der Probleme, die gelöst sind. Das macht er auch bei Facebook, bei Instagram, er macht einen Podcast.
Ist also Glaubwürdigkeit mehr denn je die Währung der Politik?
Du kannst den Hass nur bekämpfen, indem du gnadenlos offen dein Herz und deine Aktivitäten auf den Tisch legst und sagst: So, ihr habt mich gewählt, und ich mache jetzt alles, was ich kann. Und ihr müsst überlegen, ob ihr Demokraten sein wollt oder nicht. Das berührt die Leute auch, das rührt sie, sie sagen, ich kann dich jetzt nicht alleine lassen.
Politiker müssen aber mehr denn je mit Bedrohungen leben. Wie ist das bei Ihnen?
Wir sind bei Veranstaltungen bedroht worden. Das führt dazu, dass ich jede Veranstaltung abchecke, dass wir jedes Mal mit der Polizei in Potsdam durchgehen, wie die Bedrohungslage ist, dass wir gucken, ob ich das alleine bewältige oder ob ich bei heißen Themen, etwa zum Thema Identitäre oder völkische Landnahme, Unterstützung brauche. Wir haben Gott sei Dank einen Rechtsstaat, das bedeutet, dass ich jederzeit den Verfassungsschutz und die Polizei anrufen kann und die uns auch schützen. Man kann sich bestimmte Sachen nur trauen, wenn man weiß, dass das jederzeit möglich ist.
Als Sie eine Veranstaltung zu Pegida gemacht haben, ging es hoch her. Ist das eine Ausnahme oder normal?
Das ist normal. Aber da hatten wir mit der Polizei vereinbart, dass sie in zwei Minuten da ist, wenn etwas sein sollte. Da gab es gezielte Provokation, die haben wir aber gemeistert. Als Person bin ich noch nie bedroht worden, es war immer so, dass versucht worden ist, Veranstaltungen zu sprengen. Aber meine Entschlossenheit, die ich ausstrahle, das sag ich jetzt mal so überheblich, führt dazu, dass die immer zurückgeschreckt sind.
Woher kommt der Hass? Jana Hensel und Wolfgang Engler sagen in ihrem neuen Buch über „Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein“, es seien alleine die Erfahrungen der Nachwendezeit.
Diese Meinung teile ich überhaupt nicht. Diese Erfahrung, die ja die Mehrheit der Ostdeutschen gemacht hat, wurde von jedem unterschiedlich beantwortet. Die Frage ist, welche Erfahrung hast du gemacht, und welche persönlichen Konsequenzen hast du daraus gezogen. Ich würde es fatal finden, wenn wir das alleine negativ beantworten. Denn auch 80 Prozent der Wählerinnen und Wähler beantworten es nicht so wie die AfD. Es ist nicht das ganze Land voller Wut. Aber es gibt natürlich diesen Teil der Menschen, die wütend sind. Denen kann man nur begegnen, wenn man mit ihnen auf Augenhöhe, mit sehr viel Zuwendung und sehr viel Achtung redet.
taz-Redakteur Daniel Schulz hat in seinem preisgekrönten Text „Wir waren Brüder“ unter anderem beschrieben, wie er zu Hause einen Handwerker angesprochen hat, der dann aus heiterem Himmel anfing, vom globalen Judentum zu reden. Wie geht man mit solchen Situationen um? Dagegenhalten oder weghören?
Dagegenhalten. Das muss natürlich jeder für sich entscheiden, aber man muss immer wieder neu die Auseinandersetzung suchen. Bei jedem Einzelnen.
Weil man dem anderen das Gefühl gibt, im Recht zu sein, wenn man es nicht tut?
Nicht nur das. Das hat mit der eigenen Ethik zu tun. Ich bin mal nach Usedom in den Urlaub gefahren und bin dort mit einer Blumenhändlerin ins Gespräch gekommen. Da bin ich knallhart auf eine Identitäre getroffen. Wenn du da dagegenhältst, bist du nach einer Stunde fix und fertig. Aber es führt auch dazu, dass ich die junge Frau vielleicht zum Nachdenken gebracht habe. Wenn ich mich einmal dafür entschieden habe, diese Gesellschaft zu verteidigen, dann kann ich nicht sagen, ich bin im Urlaub. Selbst wenn ich im Urlaub bin. Diese Gesellschaft und die Demokratie zu verteidigen, liegt auch an mir. Das ist ja das Unbequeme der Freiheit im Vergleich zur Gemütlichkeit der Diktatur. Es kann immer wieder kippen.
Der Kirchentag hat die AfD ausgeladen …
… und sich damit einen schlanken Fuß gemacht. Das Verfassungsgericht hat die NPD nicht verboten und uns stattdessen auf den Weg gegeben, uns mit ihr auseinanderzusetzen. Das muss doch dann erst recht für die AfD gelten. Natürlich ist das nicht schön, es ist sogar anstrengend und furchtbar unbequem. Aber wir kriegen es nicht billiger.
Die Abwanderung ist zwar gestoppt, aber nicht im ländlichen Raum. Vor zehn oder fünfzehn Jahren wurde all das noch ganz anders diskutiert. Wolfgang Kil etwa hat damals ein Buch mit dem Titel „Luxus der Leere“geschrieben. Wolfgang Engler betrachtete die „Ostdeutschen als Avantgarde“, andere sahen in den neuen Ländern ein Laboratorium. War das im Nachhinein betrachtet naiv?
Nein, das war die Analyse der damaligen Zeit, wo wir noch keine Partei hatten, die verschiedene Aspekte von Unmut in einer so destruktiven Art und Weise formulierte. Man wusste nicht, wie die Entwicklung in Europa weitergehen würde. Und natürlich kann man gesellschaftliche Konzepte entwerfen, aber in einer so globalisierten Welt kann man eigentlich immer nur auf Sicht fahren und sagen, es war also die Analyse zum damaligen Zeitpunkt. Wir sind kaum mehr in der Lage, Prognosen aufzustellen, wie sich eine gesellschaftliche Entwicklung vollziehen wird. Hätten wir damals gewusst, wie es in Frankreich zu einem Phänomen Macron kommen kann und die Volksparteien faktisch nicht mehr existieren? Da ist es eine Herkulesaufgabe für die Politik, die Rahmenbedingungen zu steuern und den Menschen gleichzeitig Halt zu geben. Das erwarten viele auch von der politischen Bildung.
Ostdeutschland als Labor. Wie kommt das denn vor Ort an?
Das sind Blicke, die beim Latte macciato in der Stadt entstehen. Das merke ich auch bei vielen Journalisten. Deswegen ist es wichtig, dass es Leute wie Daniel Schulz gibt. Die sind einfach von anderem Schrot und Korn. Und warum? Sie gehören zur dritten Generation Ostdeutschland, die ich sehr früh ermutigt habe, Verantwortung zu übernehmen. Denn die wissen, wovon sie reden. Sie haben nicht diesen Latte-macchiato-Blick. Die haben das am eigenen Leib erfahren und dadurch auch eine gewisse Glaubwürdigkeit. Du kannst nicht mit Menschen arbeiten, wenn du sie hasst.
Wo ist denn Brandenburg tatsächlich Avantgarde?
Brauchen wir das überhaupt? Was mich an Brandenburg glücklich macht, ist meine Familie, die seit zweihundert Jahren zwischen Altmark und Neumark gelebt hat. Deshalb ist mir Polen genauso lieb wie Sachsen-Anhalt. Es ist meine Region, für die ich mich verantwortlich fühle. Wenn schon Avantgarde, wenn man sich schon als etwas Besonderes fühlt, dann soll man das nicht mit Ausgrenzung verbinden. Brandenburger ist der, der sich hier einbringt, egal ob er in Brandenburg geboren ist, in Syrien oder Nordrhein-Westfalen.
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