Personalie mit Sprengkraft

Die SPD stemmt sich gegen den Plan, Ursula von der Leyen zur Präsidentin der EU-Kommission zu machen. Sie sei keine Spitzenkandidatin bei der Europawahl gewesen. Bringt die Empörung der GenossInnen die Groko zu Fall?

Verärgert über den Koalitionspartner: Martin Schulz und die SPD Foto: Britta Pedersen/dpa

Aus Berlin Ulrich Schulte

Die Überraschungskandidatin begann sofort mit der Diplomatie in eigener Sache. Ursula von der Leyen, plötzlich nicht mehr mäßig erfolgreiche Verteidigungsministerin, sondern auch Kandidatin für den wichtigsten Job in der EU, reiste am Mittwoch stante pede nach Straßburg. Die Lage im Europäischen Parlament sondieren, Gespräche führen, Skeptiker überzeugen.

Die Widerstände gegen die 60-jährige Christdemokratin sind groß. Seit die EU-Staats- und Regierungschefs von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin aus dem Hut zauberten, geistern Fragen durch die Berliner Koalition: Kann die das? Warum ausgerechnet sie? Und darf Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vom Spitzenkandidatenprinzip abweichen, das man für die Kommissionspräsidentschaft verabredet hatte?

Das Amt des EU-Ratspräsidenten kommt für den 43-Jährigen zur rechten Zeit: Noch ist Michel geschäftsführender Ministerpräsident Belgiens – doch seit der Parlamentswahl Ende Mai scheiterte er an der Regierungsbildung. Und es sieht nicht so aus, als blieben dem Juristen große Chancen, im Amt zu bleiben. Michel gehört der liberalen Partei Mouvement Réformateur (MR) an, er ging schon mit 18 Jahren in die Lokalpolitik und zog mit 23 in Belgiens nationales Parlament ein. Er gilt als ruhiger, nüchterner und vermittelnder Typ – anders als sein Vater, der frühere EU-Kommissar Louis Michel. Das sind gute Eigenschaften für den Posten des Ratspräsidenten, denn der muss bei Streitfragen zwischen den Staats- und Regierungschefs schlichten und die Gipfel moderieren. Michel hat seinen Job schon sicher, denn über diese Personalie entscheidet nur der Europäische Rat, das Europaparlament hat nicht mitzureden. Am 1. Dezember beginnt seine zweieinhalbjährige Amtszeit, danach kann Michel noch einmal wiedergewählt werden. (oer)

Nein, darf sie nicht, findet die SPD – und stemmt sich entschieden gegen den Vorschlag, den EU-Ratspräsident Donald Tusk am Dienstagabend bekannt gegeben hatte. Die kommissarischen SPD-Vorsitzenden Malu Dreyer, Thorsten Schäfer-Gümbel und Manuela Schwesig gaben die Linie vor. Sie verwiesen darauf, dass sich die SPD dem Prinzip verpflichtet fühle, nur SpitzenkandidatInnen der Parteienfamilien für das Amt zu berücksichtigen.

Mit dem niederländischen Sozialdemokraten Frans Timmermans, dem CSUler Manfred Weber und der Liberalen Mar­grethe Vestager seien drei veritable Kandidaten bei der Europawahl angetreten, argumentierten die SPD-ChefInnen. Dass nun keiner der drei zum Zuge kommen solle, sondern jemand, der nicht zu Wahl gestanden habe, könne nicht überzeugen. „Damit würde der Versuch, die Europäische Union zu demokratisieren, ad absurdum geführt.“ Deshalb lehne die SPD Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin ab.

Damit führt die Personalie zu einer Koalitionskrise mit Sprengkraft. Könnte es zum endgültigen Ermüdungsbruch kommen? Der ehemalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel sprach dieses Szenario offen an. Von der Leyens Benennung gegen den Willen der SPD sei ein „beispielloser Akt der politischen Trickserei“, sagte er dem Tagesspiegel. Die SPD müsse das Vorhaben im Kabinett aufhalten. Ein einseitiges Vorgehen der Union wäre „ein Grund, die Regierung zu verlassen“.

„Der Versuch, die Europäische Union zu demokratisieren, würde ad absurdum geführt“

SPD-Spitze

Gabriel will auch einen Hebel entdeckt haben: Von der Leyen müsse erst von Deutschland als Kommissarin benannt werden, bevor sie von anderen Staatschefs als Kommissionspräsidentin nominiert werden könne. Dafür sei das Bundeskabinett zuständig, also auch die SPD-MinisterInnen. Aber diese Deutung ist faktisch falsch. Artikel 17 des EU-Vertrags sieht ein solches nationales Kabinettsvotum nicht vor. Dort heißt es lediglich, dass der Europäische Rat dem EU-Parlament „nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit“ einen Kandidaten vorschlage. Hinzu kommt: Gabriel, der schon früher mit einem Koalitionsbruch liebäugelte, hat in der SPD nichts mehr zu sagen.

Aber wahr ist auch: Der Unmut unter den SozialdemokratInnen ist groß. Von der Leyen werde im Europäischen Parlament keine Mehrheit bekommen, twitterte Seeheimer-Chef Johannes Kahrs. Der SPD-Linke Karl Lauterbach schimpfte: „Die EU ist keine Versorgungsstruktur für schwächelnde Minister.“ Der Vorgang gefährde die Entwicklung des EU-Parlaments und sei nicht demokratisch.

Die 63-jährige Französin soll die erste Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) werden. Zuvor war sie schon die erste Frau an der Spitze des Internationalen Währungsfonds (IWF), die erste französische Wirtschaftsministerin, die erste Chefin der renommierten Anwaltskanzlei Baker McKenzie. Lagarde ist Anwältin und hat sich in ihren letzten Positionen einen hervorragenden Ruf erarbeitet, sie gilt als geschickte Krisenmanagerin und Verhandlerin. Beim IWF wurde sie aber als zentrale Figur in der Euro-Schuldenkrise zeitweise zum Feindbild vieler Menschen in Griechenland. Zudem sprach sie ein französisches Gericht im Jahr 2016 schuldig, als Finanzministerin fahrlässig zur Veruntreuung französischer Staatsgelder in Höhe von 400 Millionen Euro beigetragen zu haben. Sie blieb aber straffrei. Der Europäische Rat entscheidet im Wesentlichen über die EZB-Präsidentin, das Parlament muss in dieser Sache angehört werden. Sie hat eine Amtszeit von acht Jahren. (oer)

Auch Stephan Weil, der mächtige Ministerpräsident Niedersachsens, kritisierte die Nominierung als schweren Fehler. „Man kann nicht bei Wählerinnen und Wählern wochenlang mit bestimmten Personen für europäische Parteifamilien um Stimmen werben, ihre Bilder an die Straßen hängen, um nach der Wahl zu erklären, dass diese Personen jetzt keine Rolle mehr spielen.“ Das EU-Parlament würde, würde es dies absegnen, „auf Dauer seine eigene Herabstufung mitbeschließen.“

Hinter dem Protest der SPD stecken mehrere Motive. Viele SozialdemokratInnen hatten gehofft, den eigenen Mann Frans Timmermans durchbringen zu können. Merkel und Macron hatten sich zwischendurch für ihn starkgemacht, waren aber am Widerstand der Konservativen der Visegrád-Gruppe gescheitert. Dann ist da das Lebenswerk von Martin Schulz. Schulz, ehemals EU-Parlamentspräsident, hat das Prinzip der SpitzenkandidatInnen einst mit erfunden, um BürgerInnen für die EU-Wahlen zu begeistern. Bis heute ist die SPD stolz auf das engagierte Europakapitel im Koalitionsvertrag.

Der 72-jährige Josep Borrell ist zwar derzeit Spaniens Außenminister, er hat aber ausgiebige EU-Erfahrung im EU-Parlament: Von Juli 2004 bis Januar 2007 war Borrell Präsident des EU-Parlaments. Von 2010 bis 2012 war er zudem Präsident des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz. Wenn der Sozialist künftig Hoher Beauftragter für Außenpolitik wird, dürfte das vor allem die Unabhängigkeitsbefürworter in seiner Heimat Katalonien ärgern: Borrell hat sich im Konflikt der letzten Jahre entschieden gegen eine Abspaltung des Landesteils ausgesprochen. Der Wirtschaftswissenschaftler hätte als Chefdiplomat der EU eine Amtszeit von fünf Jahren und wäre zugleich Vizepräsident der Kommission. Der Hohe Vertreter braucht zunächst eine qualifizierte Mehrheit der EU-Staats- und -Regierungschefs, dann muss die Kommissionschefin ihn absegnen. Doch das Europaparlament muss letztlich der gesamten Kommission zustimmen – also auch mit dem EU-Außenbeauftragten Borrell einverstanden sein. (oer)

Die Koalition, heißt es darin, wolle Europa „bürgernäher und transparenter machen“, sie wolle „ein Europa der Demokratie mit einem gestärkten Europäischen Parlament“. Im Grunde liest sich das wie ein Bekenntnis zum Spitzenkandidatenprinzip. Gerade passiere das Gegenteil dessen, was verabredet worden sei – so empfinden es viele SPDler. Katarina Barley, die SPD-Spitzenkandidatin im Europawahlkampf, erklärte bereits im „ZDF-Morgenmagazin“, dass sie im EU-Parlament nicht für von der Leyen stimmen werde.

Die Frage ist allerdings, ob die SPD wegen der Personalie am Ende wirklich die Eskalation sucht. Merkel hat ja immerhin versucht, Timmermans nach vorne zu schieben. Und eine Kommissionspräsidentin von der Leyen vorzuschlagen ist nicht ungeschickt: Die Christdemokratin, die in Brüssel aufwuchs, ist ein Vollprofi mit 14 Jahren Erfahrung im Bundeskabinett. Sie ist klar proeuropäisch positioniert und sprach schon 2011 von ihrer Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“. Außer­dem wäre sie die erste Frau an der Spitze der EU-Kommission überhaupt.

Schon vorher war das Amt des Parlamentspräsidenten mit dem konservativen Antonio Tajani in italienischer Hand – doch jetzt folgt mit dem 63-jährigen David-Maria Sassoli ein Sozialdemokrat an die Straßburger Spitze. Seit 2009 sitzt der ehemalige Fernsehjournalist schon im Europäischen Parlament. Anders als Tajani hat er in den vergangenen Monaten die populistische Regierung Italiens scharf kritisiert, auch deren harte Migrationspolitik und äußerst konfrontative Haltung gegenüber den EU-Institutionen. Dass mit Sassoli ein Politiker der verhassten Oppositionspartei PD an der Spitze des Parlaments sitzt, dürfte den Populisten in Rom wenig gefallen. Ihren Präsidenten wählen allein die Abgeordneten im Parlament, auch wenn der Europäische Rat das Amt bei den Verhandlungen um die EU-Kommissionsspitze als möglichen Posten für unterlegene Spitzenkandidaten mitdachte. Für zweieinhalb Jahre, also bis Januar 2022, ist Sassoli nun im Amt. (dpa, oer)

Kann die SPD ignorieren, dass von der Leyen angesichts der verfahrenen Lage ein progressives Signal wäre? Eine Ironie ist es ja, dass die Rechtspopulisten der Visegrád-Staaten, etwa der Ungar Viktor Orbán, eine erklärte Proeuropäerin unterstützen. Die Wege der EU sind eben manchmal unergründlich.

In der Kabinettssitzung am Mittwoch spielte die Empörung der Sozialdemokraten jedenfalls keine Rolle. Drei SPD-Minister fehlten, Olaf Scholz, Heiko Maas und Hubertus Heil sind schon im Urlaub. Merkel habe über den EU-Sondergipfel vom Vortag berichtet, hieß es aus Teilnehmerkreisen. Eine Diskussion habe es nicht gegeben. Business as usual also.