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„Keine Aufnahmepflicht der Küstenstaaten“

Seerechts-Professorin Nele Matz-Lück erläutert die völkerrechtlichen Bedingungen für die Rettung von Menschen auf hoher See

Foto: privat

Nele ­Matz-Lück, 45, ist seit 2011 Rechtsprofessorin an der Universität Kiel mit Schwerpunkt Seerecht.

taz: Frau Matz-Lück, gibt es eine rechtliche Pflicht, Menschen aus Seenot zu retten?

Nele Matz-Lück: Ja. Wenn jemand auf See in Lebensgefahr gerät, dann muss geholfen werden. Das ist schon lange völkerrechtliches Gewohnheitsrecht, es steht aber auch ausdrücklich im UN-Seerechts-Übereinkommen, das 1994 in Kraft trat.

Gilt diese Hilfspflicht auch gegenüber Personen, die sehenden Auges die Schiffbrüchigkeit herbeiführen – etwa indem sie in Libyen in ein untaugliches Boot steigen und dann auf Rettung hoffen?

Natürlich gilt auch dann die Rettungspflicht. In einer Notlage muss geholfen werden, unabhängig davon, wie die Notlage entstanden ist. Polizei und Rotes Kreuz helfen bei einer Notlage an Land ja auch auf jeden Fall und prüfen nicht erst die Vorgeschichte.

Welche Pflicht hat eine Kapitänin, die Schiffbrüchige aufgenommen hat?

Sie muss diese an einen sicheren Ort bringen. Das kann ein Hafen oder ein Schiff sein.

Könnte die Kapitänin gerettete Migranten auch nach Libyen zurückbringen?

Libyen ist für Migranten kein sicherer Ort. Es ist allgemein bekannt, dass afrikanische Migranten in Libyen in menschenunwürdigen Lagern leben müssen, wo sie misshandelt, gefoltert und oft auch getötet werden.

Muss Italien gerettete Migranten aufnehmen, wenn Lampedusa der nächste sichere Hafen ist?

Nein. Es gibt zwar eine Rettungspflicht auf See, aber es gibt keine Aufnahmepflicht der Küstenstaaten. Dies wird zu Recht als Konstruktionsfehler des Seerechts kritisiert. Derzeit ist es so, dass sich nach jeder Seenotrettung Staaten freiwillig melden müssen, um gerettete schiffbrüchige Migranten aufzunehmen.

Es gibt doch aber das Recht auf einen Nothafen?

Ja, aber dieses Recht ist eng begrenzt. Es gilt nur, wenn das rettende Schiff nun selbst in Seenot ist, zum Beispiel weil es so überladen ist, dass es beim aufkommenden Sturm zu kentern droht.

Was ist, wenn die Wasser- und Nahrungsvorräte zur Neige gehen?

Daraus ergibt sich kein automatisches Einfahrtsrecht in den Hafen. Der Küstenstaat muss zwar helfen, könnte aber auch Lebensmittel und Wasser zum Schiff bringen, um die Situation an Bord zu verbessern.

Und was ist, wenn Kinder und schwangere Frauen an Bord sind?

Im Fall der „Sea-Watch 3“ hat Italien zwölf besonders verletzliche Personen an Land gelassen. Die übrigen vierzig Personen waren weder Kinder noch schwanger. Deshalb hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vorige Woche eine Eilverfügung gegen Italien abgelehnt.

Italien verstößt also nicht gegen das Völkerrecht, wenn es sich grundsätzlich weigert, Migranten an Land zu lassen, die von privaten Schiffen im Mittelmeer gerettet wurden?

Nein, solange Italien in konkreten Notfällen hilft, kann es frei entscheiden, welche Personen es an Land lässt und welche Schiffe es in seine Häfen einlaufen lässt.

Die Kapitänin der „Sea-Watch 3“, Carola Rackete, argumentierte, dass sich die Lage an Bord zugespitzt hat. Sie befürchtete, dass Verzweifelte sich etwas antun könnten. Ist das keine Notlage?

Das dürfte eine Notlage sein. Die Kapitänin hat hier einen Beurteilungsspielraum, denn sie ist vor Ort und für die Situation an Bord verantwortlich. Daraus folgt aber nicht, dass sie einfach in den Hafen einfahren kann. Italien könnte ja auch eine psychologische Betreuung an Bord organisieren. Die Kapitänin muss also mit einer Sanktion für die eigenmächtige Einfahrt in den Hafen rechnen.

Italien spricht zudem von einer Bestrafung wegen Begünstigung der illegalen Einreise von Migranten.

Nach italienischem Recht muss Rackete wohl auch damit rechnen, obwohl sie keine kommerzielle Schlepperin ist, sondern humanitäre Hilfe leistete.

Verstößt die Bestrafung humanitärer Helfer nicht gegen höherrangiges Recht?

Wohl nicht. Das Völkerrecht verpflichtet die Staaten zwar, Schlepperei zu bestrafen, aber es gibt keine Staatenpflicht, humanitär motivierte Hilfe bei der illegalen Einreise straffrei zu lassen.

Gilt das auch, wenn jemand Flüchtlingen hilft, die anschließend Asyl erhalten?

Ja. Die Genfer Flüchtlingskonvention sieht zwar Straffreiheit für die illegale Einreise der Flüchtlinge selbst vor, aber keine Straffreiheit für ihre Helfer.

Interview: Christian Rath

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