Bei Detlef
im Minivan

Fremden vertrauen, die man nicht über eine App kennengelernt hat? Trampen scheint aus der Zeit gefallen, ist aber noch da. Eine Revivalreise auf der ehemaligen Transit­strecke Berlin–Helmstedt

Ist das etwa ein Fiat Ritmo? Egal. Hauptsache, für umme Foto: Frank Silberbach

Von Rebecca Stegmann

Es ist 8.20 Uhr morgens und ziemlich kalt. Trotzdem ziehe ich mir die Mütze vom Kopf. Ich möchte so vertrauenerweckend wie möglich aussehen, schließlich sollen mich fremde Menschen in ihr Auto einsteigen lassen. Ich stehe an der Ausfahrt der Raststätte Grunewald im Südwesten Berlins. Der Burger King hinter mir hat noch geschlossen, vor mir liegt ein kleiner, halbleerer Parkplatz, dahinter die Tankstelle. Mit der linken Hand halte ich ein Stück Pappe, auf dem groß „A 2“ geschrieben steht, den rechten Arm habe ich ausgestreckt, Daumen hoch. Auf mich wartet die ehemalige Transitstrecke und ein Termin nahe Helmstedt.

Nur zwei Kilometer südlich von hier, immer die A 115 entlang, drängelten sich in den 70ern und 80ern Dutzende junge Menschen auf dem Seitenstreifen. Pappschild an Pappschild, vor allem zu Beginn der Ferienzeit. Der Grenzübergang Dreilinden war der Startpunkt der Transitstrecke nach Helmstedt, der kürzeste Weg von Westberlin in die BRD. Die Tramper*innen wollten zu ihren Familien oder verreisen, einfach raus. Die Polizei verteilte damals Faltblätter, um das „Anhalter­unwesen“ zu bekämpfen.

Die Raststätte Grunewald ist – was das Trampen angeht – vielleicht das neue Dreilinden. Laut Hitchwiki, der Wikipedia für Tramper*innen, ist sie der „Tramperstrich“, der vermutlich am meisten von Tramper*innen frequentierte Ort in Deutschland. Die durchschnittliche Wartezeit auf eine Mitfahrgelegenheit beträgt hier 36 Minuten, errechnet aus den Angaben von 77 Nutzer*innen. 103 Bewertungen attestieren, dass mein Standpunkt an der Ausfahrt im Schnitt ein guter Platz zum Trampen ist. Die Tankwartin bestätigt das: „Jeden Tag sind Tramper auf dem Parkplatz. Ich schaue da schon gar nicht mehr richtig hin.“ Trampen, das in Deutschland seit den 90er Jahren totgesagt wird (Mitfahrzentralen, Billigflüge, zu viele Horrorgeschichten) scheint hier recht lebendig.

Das erste Auto, das vor mir hält, ist allerdings ein Taxi. Der Mann hinter dem Steuer grinst. Er weiß, dass ich trampen will. Mindestens 30 Autos fahren an mir vorbei, meistens ignorieren mich die Fahrer*innen, ab und zu heben sie entschuldigend die Schultern oder ziehen die Augenbrauen zusammen. So was macht man doch heute nicht mehr, scheinen sie mir vermitteln zu wollen. Lächeln und selbstbewusst aussehen fällt mir mit jeder Abfuhr schwerer.

An dem, was Trampen ausmacht, hat sich trotz Internet und Smartphones nichts geändert. Es gibt keine Abfahrtszeit. Ich weiß nicht, wer anhält, mit wem ich einige Minuten oder Stunden in einem wenige Quadratmeter großen geschlossenem Raum verbringen werde. Fremden vertrauen, und dann auch noch welchen, die nicht über eine App oder Webseite mit einer Sterne­bewertung versehen wurden, fühlt sich an wie ein kleiner Akt der Rebellion.

Nach einer halben Stunde stehen plötzlich zwei vollbepackte Frauen vor mir. Eine hält ein Pappschild, auf dem „Köln“ steht. Petra und Mascha sind beide Anfang 20, in meinem Alter, und wollen heute bis nach Trier, in den nächsten Tagen nach Madrid. „Warum stehst du denn hier und quatschst nicht die Leute an der Tankstelle an?“, wollen sie wissen. Mascha läuft sofort zum nächsten Auto auf dem Parkplatz, in das gerade zwei Männer einsteigen. Mein Bauchgefühl sagt mir, nicht bei ihnen mitzufahren, und sie fahren auch nicht in die richtige Richtung. Wir stehen ein paar Minuten da, dann hält ein schwarzer BMW vor uns. Der Fahrer, in den Fünfzigern, randlose Brille und Bauchansatz, ruft uns halb ernst, halb im Spaß zu: „Ich sag das jetzt schon mal: Es gibt hier nichts zu klauen!“

Jörg muss bis hinter Köln und nimmt uns alle drei mit. Ich sitze auf dem Beifahrersitz, Mascha und Petra auf der Rückbank. Nach fast 40 Minuten Wartezeit geht es endlich los, in einem schicken Dienstwagen rauf auf die A 115. „Ich bin als Kind selbst getrampt. Und ich will nicht, dass euch irgendein Perverser mitnimmt“, erklärt unser Fahrer. Das letzte Mal habe er vor drei Wochen jemanden eingesammelt. „Ich mache das schon öfters, ist immer von der Tagesform abhängig.“ Einmal war es ein Pärchen, das Mädchen hat auf der Rückbank Gitarre gespielt. Ein anderes Mal hielt er für einen Punk, der dann plötzlich seinen Freund dazurief.

Wir rauschen an Dreilinden vorbei. Ich bin die Einzige, die einen Blick auf die alte Anlage wirft. Auf dem Parkplatz parken nur Lkws, die Raststätte ist verwaist. Es gibt keinen Seitenstreifen mehr, auf dem die Autos halten könnten, und sie sind auch viel zu schnell unterwegs. „Tramperinsel untergegangen“, stand im Juli 1990 über einem taz-Artikel. Die Polizei schicke alle Autostopper an Dreilinden fort und drohe ihnen mit Bußgeldern. „Gerade jetzt, wo in Berlin die Sonne großstadtfrustrierte Gemüter in die weite Welt lockt.“

Unser Fahrer ist blendend gelaunt und beschließt, dass wir eine Vorstellungsrunde machen sollten. Petra und Mascha erzählen, was sie studieren und dass sie sich auf einer Ägyptenreise der BUND-Jugend kennengelernt haben. Um die Umwelt zu schonen, trampen sie nach Spanien, statt zu fliegen. Vor dem Fenster ziehen Wälder vorbei. Ich hole eine Packung Fruchtgummi aus dem Rucksack, und Jörg stellt uns Schätzfragen. Wie viele Wörter hat die deutsche Sprache? Und wie viele benutzen wir im Alltag? Seine Frau ruft an, er begrüßt sie mit „Hallo, Prinzessin“, dann stellt er uns vor.

Nach anderthalb Stunden passieren wir den nächsten ehemaligen Kontrollpunkt Marienborn, Ende der Transitstrecke. Vor der Wende konnten Tramper*innen frühestens hier in Helmstedt wieder aussteigen oder rausgeschmissen werden. Kurz hinter Helmstedt fährt Jörg für mich von der Autobahn ab. Ich bedanke mich, drücke die Tür zu und winke.

Natürlich habe ich die Ermordung der Tramperin Sophia Lösche im Hinterkopf

Bis zu meinem Termin habe ich noch mehr als genug Zeit, also laufe ich die letzten fünf Kilometer. Auf dem Rückweg will ich eigentlich nicht wieder zu Fuß gehen. Ich stehe 20 Minuten an der kleinen Hauptstraße in Grasleben, dann gebe ich auf und laufe bis zur Bundesstraße. Nach zwei Minuten kommt ein Lkw vor mir zum Stehen. Ich klettere die ersten Stufen hoch und mache die Tür auf. In der Fahrerkabine sitzt ein Mann mit Dreitagebart und Brille. „Bis zur Auffahrt kann ich dich mitnehmen“, sagt er. Mein Fahrer heißt Michael und hat Saatgut geladen, so viel erfahre ich auf der kurzen Fahrt. Wenige Minuten später sitze ich schon bei Detlef im Minivan. „Mutig!“, sagt er, als ich die Tür schließe. Auf seinem Heimweg bringt er mich die nächsten paar Kilometer bis zur Raststätte Marienborn.

Nach einer kurzen Bockwurst-Pause laufe ich zur Ausfahrt, vorbei an den als Gedenkstätte erhaltenen Resten des Kontrollpunktes. Dem langen Dach, unter dem die Passkontrollen stattfanden, dem Kommandoturm, der Beschauerbrücke. Ich positioniere mich an der schmalen Straße, mein zweites Schild, auf das ich „Berlin“ geschrieben habe, vorm Bauch, Daumen hoch. Um die Mütze abzusetzen, ist es zu kalt geworden. Nach knapp 20 Minuten fährt ein Auto erst einige Meter an mir vorbei und setzt dann zurück. Ein älterer Mann mit grauen Haaren sitzt hinter dem Lenkrad, ein junger mit braunem Vollbart auf dem Beifahrersitz. Sie wollen nach Berlin rein, Volltreffer. Ihre Namen wollen die beiden Maschinenbauer nicht in der Zeitung lesen, mit dem Dienstwagen dürfen sie eigentlich niemanden mitnehmen. Ich rede mit dem Fahrer über seine Reisen nach China. Irgendwann schaut er mich im Rückspiegel an und sagt: „Wenn meine Tochter trampen würde, würde ich sie fragen, ob sie den Schuss nicht gehört hat.“ Der Jüngere erwidert, in der Ringbahn könne Frauen genauso gut etwas zustoßen.

1985 veröffentlichte die taz einen Artikel über den Tod von neun Tramper*innen innerhalb eines Jahres. Kurz darauf wurde der Brief einer wütenden Frau abgedruckt. „Durch weniger Trampen werden die Machtgelüste und die Frauenfeindlichkeit bestimmt nicht weniger. Eher wird der Raum, in dem sich Frauen bewegen, eingeschränkter“, schrieb sie.

Anders als in den 80ern gibt es heute überall Überwachungskameras, man kann vor der Fahrt ein Foto des Nummernschilds verschicken, den aktuellen Standort von Freund*innen verfolgen lassen, selbst über GPS überprüfen, ob man auf der richtigen Route ist. Natürlich habe ich die Ermordung der Tramperin Sophia Lösche im Hinterkopf. Und die Stimmen, die sagten, sie sei naiv gewesen. Dagegen stelle ich die Statistiken, die besagen, dass die eigene Wohnung der gefährlichste Ort für Frauen ist. Und die über 12.000 Kilometer, die ich auf fünf Kontinenten per Anhalter zurückgelegt habe.

Zurück in Berlin, wir verabschieden uns. S-Bahn-Station Messe Nord, ich sitze nun im Zug. Trampen ist anstrengend. Und immer noch ein Abenteuer.