Der Schlechtgelaunte hatte einen Revolver in der Faust

„Menschen neben dem Leben“ erzählt von den zwanziger Jahren in der Wirtschaftskrise. Ein Berlinroman, 1937 in einer schwedischen Übersetzung verlegt. Jetzt erscheint das Buch von Ulrich Alexander Boschwitz endlich auf Deutsch. Am Samstag wird es im Literaturhaus vorgestellt, hier ein Vorabdruck des 17. Kapitels

Nächtliches Berlin in den Zwanzigern: Ein Kokainverkäufer und Kundinnen Foto: Georg Pahl/Bundesarchiv

Von Ulrich Alexander Boschwitz

Fundholz war zu schnell gelaufen. Das merkte er jetzt. Er hatte Seitenstiche. Er ging langsamer, aber die Stiche ließen nicht nach. Man müsste eine Pause machen, damit es besser wird, überlegte er.

Fundholz sah sich um. Polizisten waren nicht zu sehen. Er überquerte die Fahrbahn und blieb auf der anderen Seite der Straße vor den Bildern eines Kinos stehen.

Ein Mann, der anscheinend sehr schlechter Laune war, stand mit geballten Fäusten vor einem jungen Herrn mit sehr scharfen Bügelfalten. Der junge Herr lächelte furchtlos, frei und sympathisch.

Fundholz sah das Bild ohne großes Interesse an. Hinter dem jungen Herrn stand ein junges Mädchen. Das Mädchen war sehr schön, es hatte schneeweiße Zähne und einen aufreizend roten Mund. Sie schmiegte sich schutzsuchend an dem jungen Mann mit der Bügelfalte, und ihre Hände lagen sachte, aber doch graziös auf seinen breiten Schultern.

Auf dem Plakat stand mit dicker Schrift „Tragische Liebe“. Sie musste wohl sehr tragisch sein, denn der Schlechtgelaunte hatte, wie Fundholz jetzt sah, einen Revolver in der Faust.

Der Alte wandte sich ab. Trotz seiner Stiche ging er weiter. Er wollte nichts von tragischer Liebe wissen. Er wollte seine Ruhe haben.

Auf der anderen Seite des Kinos leuchtete auch ein großes Plakat: Ab übermorgen: Erstaufführung des Alpenfilms „Wo den Himmel Berge kränzen“.

Hier blieb Fundholz wieder stehen. Er sah sich das Plakat an.

Ein älterer Herr mit Kniehosen war neben einem braungebrannten Mann abgebildet. Beide hatten sich untergehakt und lächelten vergnügt. Hinter ihnen strahlte blau der Himmel. Ein ganz besonders blauer Himmel. Tief dunkelblau. Der Drucker hatte sicher das blaueste Blau verwendet, das es überhaupt gab. Dafür war es aber auch sehr schön geworden.

Die beiden Männer standen auf der Spitze eines Felsens. Wenn sie nicht so dicht nebeneinanderstehen würden, dachte Fundholz, würde sicher einer von ihnen herunterfallen.

„Jugendfrei“, stand mit weißer Schrift auf dem Plakat. – Fundholz ging nie ins Kino. Erstens wäre ihm das rein finanziell schwer möglich gewesen, zweitens hatte er auch kein Verlangen danach, denn Fundholz war Realist. Er sah das Leben täglich, wie es war, und hatte kein Interesse, es so zu sehen, wie es sein könnte.

Ulrich Alexander Boschwitz folgte 1939 seiner Mutter ins britische Exil. Dort wurde er als enemy alien interniert und nach Australien geschickt. 1942 ging er an Bord eines Passagierschiffs, um nach Großbritannien zurückzukehren. Es wurde von einem deutschen U-Boot versenkt. Boschwitz’ wiederentdeckter Roman „Der Reisende“ wurde 2018 zum Bestseller. Im September wird nun auch sein erster Roman, „Menschen neben dem Leben“, bei Klett-Cotta erstmals auf Deutsch erscheinen. Die Protagonisten sind drei Obdachlose, die sich während der Weltwirtschafts­krise in einen feuchten Keller in Berlin einmieten. Am heutigen Samstag, um 9 Uhr morgens, werden dem Schriftsteller, seiner Mutter Martha und seiner Schwester Clarissa in Anwesenheit von Boschwitz’ Nichte Reuella Shachaf am Hohenzollerndamm 81 in Charlottenburg-Wilmersdorf drei Stolpersteine verlegt. Abends um 18 Uhr wird es zu Ehren dieses Anlasses im Literaturhaus Berlin, Fasanenstraße 23, auf Hebräisch und Deutsch eine Lesung aus „Der Reisende“ und eine Vorabbuchpräsentation von „Menschen neben dem Leben“ geben. Es lesen Ariella Hirshfeld und Constantin Lücke. Der Eintritt ist frei.

Filme sind in mancher Beziehung Lebenssurrogate. Sie unterscheiden sich von anderen Surrogaten dadurch, dass sie schöner sind als die Wirklichkeit. Filmhelden erleben besondere Schicksale und sind auch selbst besondere Menschen. Die Männer verfügen über besondere Kräfte, die Frauen fast immer über besonderen Charme. Es gibt auch Filme, die das Leben ohne Schokoladenüberguss zeigen. Sie sind seltener und wohl auch weniger erfolgreich, denn die Mehrzahl der Menschen will sich gerne imponieren lassen. Die Erfolge, die sie selbst nicht haben und die sie auch ihren Bekannten nicht gönnen, die sehen sie mit Vergnügen auf der Leinwand.

Hier ist es etwas anderes. Hier ist es etwas Selbstverständliches. Hier würden auch wir Erfolge erzielen, wenn alles so wäre, wie man es hier sieht. Wie mutig wären zum Beispiel all die jungen Männer, die zwar jung, aber noch keine rechten Männer sind, wenn sie auch Detektive wären. Leider sind sie es nicht. Zum Mut liegt also keine Veranlassung vor. Wie liebenswürdig wären die brummigsten Vorgesetzten, wenn sie so niedliche Stenotypistinnen hätten wie hier im Film. Wie schön wäre das Leben, wenn sich jeder wie ein Star im Film die Rolle aussuchen könnte, die er spielen will. Der Lungenkranke würde Schwergewichtsmeister, der Küchenchef General, der Schlächtergeselle Vorstand des Tierschutzvereins, die Mieter zu Hausbesitzern, der Hausbesitzer zur Hypothekenbank und die Arbeitslosen würden wieder Lohn und Arbeit bekommen. Wie schön wäre das alles. Leider sind die meisten dieser Ideale sehr schwer zu erreichen, und so geht man auch deswegen ins Kino, um zu sehen, wie es nicht ist.

Fundholz machte sich keine Illusionen. Eine Mark in bar war ihm lieber als das große Los im Film. Er blieb vor den Plakaten nicht aus Neugierde stehen, sondern um für sein Stehenbleiben überhaupt eine Begründung zu haben. Hier fiel er nicht auf. Denn er stand unter zahlreichen Bildungshungrigen, die es ihm gleichtaten.

Dauernd blieben neue Passanten stehen. Sahen auf das berückende Blau des Himmels und die beiden braungebrannten Herren. Die jüngeren, weiblichen Passanten, von sechzig abwärts, sahen vor allem auf den jüngeren Herrn. Er war ein sehr bekannter Filmschauspieler. Ein Mensch, der im Film tollkühn allen Gefahren trotzte. Nicht mit der Wimper zuckte, wenn Lawinen heranbrausten oder schlechte Menschen mit Revolvern nach ihm schossen. Ein Mann, so wie er sein sollte. Diesen Mann verglich man mit den zu mageren oder zu dicken Ehemännern und fand, man sei vom Leben betrogen worden. Der Filmheld hatte keine Tränensäcke, lief nie in Pantoffeln, band beim Essen nie den Kragen ab. Er hatte all diese schlechten Manieren und Angewohnheiten nicht. Er war groß, blond und blauäugig. Sein Beruf: das Niederzwingen von Gefahren. Seine Sendung: ein Filmheld sein. Ein Mann aus Granit mit ausgezeichneten Manieren.

Fundholz sah auf das Bild. Aber er sah nicht den Helden und auch nicht den vermutlichen Heldenvater. Fundholz sah Annie. Er sah sie wieder vor sich, wie er sie vor wenigen Minuten gesehen hatte. Wie alt hatte sie doch ausgesehen, furchtbar alt und hässlich. Die Erinnerung war schwer zu bannen. Sie stieg immer wieder in ihm auf, aber er wehrte sie ab. Er wollte nicht an Annie denken. Er wollte nur eins, seine Ruhe haben. Es kam bei allem Denken nichts heraus. Das war sicher. Er konnte an seinem Leben nichts mehr ändern, und er wollte es auch nicht. Warum sollte er sich noch mit Erinnerungen quälen? Erinnerungen, die verblasst waren und die Annie wieder wachgerufen hatte. Weshalb die alten Geschichten wieder durchdenken? Es war nicht schön gewesen. Ganz bestimmt nicht. Über seinen Kopf war eine solche Flut von Unglück ausgegossen worden, er hatte durch so vieles durchgemusst. Er wollte sich nicht mehr erinnern. Er wollte sich an nichts von dem erinnern, was früher gewesen war.

Die Seitenstiche hatten längst aufgehört, aber Fundholz stand immer noch vor dem Plakat. Er kämpfte darum, seine innere Ruhe zurückzuerlangen. Er wollte alles, was Erinnerung hieß, niederkämpfen. Er schloss die Augen. Er musste sich ablenken, an etwas Beruhigendes denken.

„Ich werde heute Abend Schnaps trinken“, murmelte er. „Ich werde heute Abend fünf Schnäpse trinken.“

Die Aussicht erquickte ihn. Fünf Schnäpse hintereinander hatte er lange nicht mehr getrunken. Bier war Luxus. Bier war fast schon eine Leckerei. Aber Schnaps, das musste sein. Es musste gerade heute sein. Fundholz ging. Gleichzeitig mit ihm machte sich ein älterer Mann aus der Gruppe der Stehengebliebenen los. Fundholz achtete nicht auf ihn, aber dieser trat neben ihn und sprach Fundholz an. „Na, Meister, wie geht das Geschäft?“ Seine Stimme klang angenehm ruhig.

So geht man auch deswegen ins Kino, um zu sehen, wie es nicht ist

Fundholz sah ihn kaum an. „Schlecht“, sagte er. Der Mann ging mit schweren Schritten neben ihm. „Ja, wenn wir jung sind, dann arbeiten wir, und wenn wir alt sind, können wir betteln“, sagte er ruhig. Er war besser gekleidet als Fundholz, der darin auch schwer zu unterbieten war. Aber auch er trug einen alten grauen Anzug, der überall geflickt war und durchgescheuert glänzte.

Fundholz antwortete nicht. Schon wieder sollte er über Probleme nachdenken, über das Wieso und Warum. Er war Bettler und zerbrach sich nicht den Kopf darüber, ob es richtig war oder nicht, dass er betteln musste. „Ich bettle nicht“, sagte der Mann. Er sagte das nicht mit dem Unterton „denk bloß nicht, ich wär deinesgleichen“. Er stellte nur fest.

Fundholz sah in dieser Feststellung auch keinen Hochmut. Es war ihm absolut nicht erwünscht, dass jeder Bettler war. Im Gegenteil, er hatte das Gefühl, dass die Branche in den letzten Jahren, infolge der Überfüllung, sowieso schon gelitten hatte. Im Übrigen war es ihm gleich. Von ihm aus konnte der Mann neben ihm betteln oder nicht.

Der sprach weiter, ohne Hast, bedachtsam jedes Wort wiegend. „Ich lebe bei meinem Sohn und habe noch etwas Rente, sonst müsste ich auch betteln. Ist das eigentlich richtig, sagen Sie mal, wenn ein Arbeiter, der über zwanzig Jahre in einer Fabrik gearbeitet hat, von einer Woche zur anderen entlassen wird? Dabei gab es in den letzten Jahren so lausige Löhne, dass kein Mensch dabei sparen konnte. Das, was man früher gespart hat, fraß die Inflation. Dann heißt es eines Tages, die Fabrik wird geschlossen und alle können gehen. Bloß der Direktor nicht. Der Direktor, der bleibt. Der hat wohl noch zu tun. – So war das. Wir Arbeiter bekamen einfach einen Tritt und der Direktor, der ist geblieben. Aber glauben Sie nicht, dass wir uns diese Ungerechtigkeit auf die Dauer gefallen lassen. Wie kann man denn Menschen, die seit zwanzig Jahren in einer Fabrik gearbeitet haben, vor die Türe setzen? Bloß weil das Geschäft nicht gut geht. Wir haben doch auch nichts davon, wenn das Geschäft besser geht. Jedenfalls haben wir weniger davon als die Aktionäre. Warum sollen wir die Leidtragenden sein, wenn es mal nicht so geht?“

Fundholz antwortete nicht. Er konnte Ungerechtigkeiten nicht ändern. Wozu also darüber nachdenken?