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Endlich wieder Feierabend?

Der Europäische Gerichtshof hat entschieden: Arbeitgeber*innen müssen die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter*innen künftig genau erfassen – nicht erst dann, wenn sie Überstunden machen. Nun sind die EU-Staaten am Zug, haben aber auch Spielräume bei der Umsetzung

Von Milena Pieper

Nach Feierabend noch schnell die Konferenz für den nächsten Tag vorbereiten, sich mit der Kollegin abstimmen oder nach 22 Uhr die E-Mails checken – Erzählungen von nicht erfassten Überstunden gibt es aus vielen Branchen. Damit soll nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg (EuGH) Schluss sein: Es verpflichtet Arbeitgeber*innen in der EU, die gesamte Arbeitszeit ihrer Beschäftigten systematisch zu erfassen – egal ob im Büro, im Außendienst oder im Homeoffice. Was bedeutet das für den Arbeitsalltag im Norden?

„Das Urteil hat massive Auswirkungen auf das deutsche Arbeitsrecht“, sagt Michael Fuhlrott, Fachanwalt für Arbeitsrecht sowie Professor und Studiendekan an der Fresenius-Hochschule in Hamburg. Bis auf wenige Bereiche, etwa der Baubranche, gebe es in Deutschland bisher gar keine oder kaum gesetzliche Verpflichtungen zur Erfassung der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit pro Tag; eine Dokumentation wird meist erst bei Überstunden fällig.

In anderen EU-Ländern ist das ähnlich, – und dagegen hatte ein spanischer Arbeitnehmer geklagt. Im Rechtsstreit mit seiner Arbeitgeberin, der spanischen Niederlassung einer deutschen Bank, berief er sich auf eine europäische Richtlinie zur Arbeitszeitgestaltung. Die verlangt von den Mitgliedsstaaten, Maßnahmen zu treffen, um Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer*innen zu gewährleisten. Ohne Nachweise und Dokumentation der Arbeitszeit sei das nicht möglich, fand der Arbeitnehmer. Die Sache wurde dem EuGH vorgelegt – und der entschied zugunsten des Klägers.

Als erstes sind jetzt die Mitgliedsstaaten gefragt. Sie müssen die Vorgaben des EuGH umsetzen. Als Gesetzgeberin hat die Bundesregierung jedoch einigen Spielraum bei der genauen Ausgestaltung. Fuhlrott hält es für wahrscheinlich, dass das bestehende Arbeitszeitgesetz angepasst wird. Abhängen dürfte das auch davon, wie es mit der großen Koalition im Bundestag weitergeht: Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hatte zunächst angekündigt, prüfen zu wollen, ob überhaupt Handlungsbedarf bestehe. Dass es den gibt, steht für Fuhlrott außer Frage. Aber: „Ob es Ausnahmen für bestimmte Branchen oder kleinere Unternehmen geben wird, ist noch offen.“

Eine Frist für die Umsetzung nennt das Urteil nicht, aber Unsicherheiten bei Arbeitgeber*innen gibt es schon jetzt, berichtet der Experte, der als Anwalt auch Unternehmen berät – zum Beispiel darüber, welche Systeme zur Arbeitszeiterfassung geschaffen werden müssten. „Das EuGH-Urteil ist ein Riesenthema.“

Insgesamt sieht man das Urteil aufseiten der Arbeitgeber im Norden als Widerspruch zu den heutigen Anforderungen: Auf Digitalisierung und flexiblere Arbeitszeiten könne man nicht mit „Instrumenten der Arbeitszeiterfassung von vorgestern“ reagieren, heißt es von den Unternehmensverbänden Nord; eine „bürokratische Pflicht“ lehne sie ab. Hauptgeschäftsführer Michael Thomas Fröhlich verweist auf flexible Arbeitszeitmodelle, auch um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf möglich zu machen.

Elf Stunden Ruhezeit sind Pflicht – schon jetzt

Dem stimmt Fuhlrott zu: „Morgens ins Büro, am Nachmittag die Kinder abholen, Abendessen und gegen 22 Uhr noch an den Schreibtisch – das wird so nicht mehr möglich sein“, sagt der Arbeitsrechtsexperte. Der Grund dafür: die Einhaltung der Ruhezeit von elf Stunden, die in Deutschland jetzt schon geltendes Recht ist. Große Veränderungen durch das Urteil erwartet Fuhlrott insbesondere, weil es künftig nicht nur darauf ankomme, wie lange gearbeitet wird – sondern auch, wann. In Werbung und Marketing etwa, wo Menschen oft bis mitten in der Nacht im Büro seien, würden sich solche Ruhezeiten kaum einhalten lassen.

Aus Sicht der Gewerkschaften ist das ein großen Manko der derzeitigen Gesetzeslage. Das EuGH-Urteil begrüßen sie daher. Auf Twitter entkräftete Christian Wechselbaum von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten Oldenburg-Ostfriesland sowie SPD-Mitglied das Arbeitgeber*innen-Argument: „In Zeiten, wo per App Schritte gezählt werden, muss kein Arbeitgeber von Bürokratiewahnsinn wegen der #arbeitszeiterfassung jammern.“

Gewerkschaftsvertreter*innen sehen den Arbeitnehmer*innenschutz durch das Urteil gestärkt. „Die Anzahl unbezahlter Überstunden bewegt sich seit Jahren auf einem inakzeptabel hohen Niveau“, sagt etwa Uwe Polkaehn, Bezirksvorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes im Norden. Allein in Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern schätzt der DGB die unbezahlte Mehrarbeit auf 77 Millionen Stunden. „Im Umkehrschluss heißt das: Innerhalb eines Jahres erwirtschaften sich die Arbeitgeber im Norden knapp 2,5 Milliarden Euro in die eigenen Taschen. Den Sozialkassen wiederum fehlen dadurch gut 800 Millionen Euro“, so Polkaehn. Er warnt zudem vor gesundheitlichen Folgen: „Permanenter Stand-by-Modus und Entgrenzung können krank machen.“ Um Flexibilität trotz allem sicherzustellen, schlägt auch der Gewerkschafter vor: „Statt mit der Stechuhr könnte man heutzutage per Smartphone und App die Arbeitszeit dokumentieren.“

Wird der Richter*innenspruch aus Luxemburg aber dafür sorgen können, dass sich in der Praxis etwas ändert – und nicht weiterhin „mal eben“ in der Freizeit E-Mails bearbeitet werden? Schleswig-Holsteins Wirtschafts- und Arbeitsminister Bernd Buchholz (FDP) befürchtet negative Folgen auch für Arbeitnehmer*innen: Das Urteil führe zu einer „völligen Transparenz“ und damit zu gläsernen Mitarbeiter*innen, sagte er gegenüber der Deutschen Presse-Agentur.

Michael Fuhlrott schätzt, dass es für Arbeitnehmer*innen leichter wird, ihre Rechte geltend zu machen: Vertrauensarbeitszeit und unbezahlte Überstunden wird es so nicht mehr geben können. Abhängig sei die Einhaltung der Vorgaben aber von der Frage, welche Art der Kontrollen eingeführt werden.