: Die dunkle Seite in einem selbst
Fernanda Melchor und Angelica Ammar erhielten in Berlin den Internationalen Literaturpreis
Als am Dienstagabend auf der glutheißen Terrasse des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin der Internationale Literaturpreis 2019 überreicht wurde, da sprach HKW-Intendant Bernd Scherer zunächst von den Gemeinsamkeiten der nominierten Bücher – und bereits da wurde es interessant: „Es ist keine unterhaltende, wohlmeinende, nette Literatur, die sich auf der Shortlist findet“, sagte er einleitend, „es ist Literatur, die die Kraft hat, in den Abgrund zu sehen und zu benennen, was dort aufscheint.“
Nun wäre es auch eine erzählerische Bankrotterklärung, schriebe man gegenwärtig „nette“ Literatur; auffällig aber war schon, dass die nominierten Romane oft von Verfall und vom Sterben, von physischer und psychischer Vernichtung handeln. Mit dem Preis ausgezeichnet wurden am Ende die mexikanische Autorin Fernanda Melchor und ihre Übersetzerin Angelica Ammar für „Saison der Wirbelstürme“ (Wagenbach Verlag), einen Roman, der tief in seelische Abgründe und die Triebstruktur des Menschen blicken lässt.
In „Saison der Wirbelstürme“ zeichnet Melchor, Jahrgang 1982, das Sittenbild eines fiktiven mexikanischen Dorfs namens La Matosa; eines Dorfs, in dem die Figuren niederträchtig, infam, boshaft handeln und denken und zwischenmenschlich fast nur an den Körpern der anderen als Sexualobjekte interessiert sind. Gerahmt wird die Erzählung vom Mord an einer „Hexe“, die Gegenstand des alltäglichen Dorf-Gossip ist. Ihr Grundimpuls, sagte Autorin Melchor auf dem Podium, sei es gewesen, „die dunkle Seite in sich selbst besser zu verstehen“ und sich auszumalen, was unter dem Firnis der Zivilisation liegt.
Diese unerbittliche Sprache
Der Roman besteht zum Großteil aus Bewusstseinsströmen seiner Figuren, die oft endlosen Laster- und Lästerreigen gleichkommen. Es geht um das „Dreckskaff“, die „Dreckskerle“, die „Drecksweiber“, es wird geflucht, gevögelt und geschändet, es gibt sehr viel explizite Sprache: „[…] und der Pisser stand daneben und schaute zu, wie die Alte sie schlug und als dahergelaufene nutzlose Schmarotzerinnen beschimpfte, schlimmer als Tiere seid ihr, eure Hurenmütter hätten euch mitnehmen oder auf der Straße verschenken sollen, dann wärt ihr in einer Besserungsanstalt gelandet, wo die Lesben kleine Mädchen wie euch mit Besenstielen vergewaltigen, ihr läufigen Hündinnen, das ist es, was ihr seid […]“
Diese unerbittliche Sprache, die ins Deutsche zu übertragen für Angelica Ammar sicher Schwerstarbeit war, ist ein Grund, warum der Roman gewann – schließlich ist der Internationale Literaturpreis ausdrücklich auch ein Übersetzer_innenpreis. Jurymitglied Robin Detje begründete das Votum zudem damit, dass Melchor in den Augen der Juror_innen „den Roman der Armut im Globalkapitalismus des 21. Jahrhunderts geschrieben“ habe. Das ist ein paar Nummern zu groß, und man muss materielle Armut auch nicht als Oberthema sehen. Als Gegenwartsroman ist „Saison der Wirbelstürme“ aber sicher deshalb relevant, weil er von sprachlicher und körperlicher Verrohung und Entgrenzung handelt, weil man das Dorf, das Melchor beschreibt, als globales und digitales Dorf verstehen kann. Und doch kann man sich auch fragen, ob sich die endlosen Tiraden in dem Roman – wie in einem überladenen HipHop-Song – nicht irgendwann erschöpfen.
Spannend war es, den Einblick in die Übersetzungswerkstatt, den Melchor und Ammar gaben, zu verfolgen. Da die Figur der Hexe eine zentrale Rolle einnimmt, sprachen sie etwa über die Differenz zwischen dem deutschen Wort „Hexe“ und dem spanischen bruja, das alltäglicher im Sprachgebrauch ist.
In der Keynote, die der nigerianisch-amerikanische Schriftsteller Teju Cole – der 2013 den Preis gewann – zu Beginn gab, stellte er eine Verbindung zwischen dem „Über-setzen“ in der Sprache und der Nautik her. Über Umwege kam er in einer engagierten Rede auf die Flüchtlingshelfer_innen, die auch beim Übersetzen helfen und dafür zum Teil angeklagt würden. Und er kam zu der Literatur, die gerade deshalb, weil sie so „langsam und ineffizient“ sei, immer wieder zum Denken anstifte. Am meisten dann, wenn sie weder bloße „Unterhaltung noch Propaganda“ sei. Jens Uthoff
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