Der letzte Sommer der DDR: Auf Westkurs

Urlaub in Bulgarien, drei Fluchtversuche und ein Stopp in der Prager Botschaft: Die Geschichte der Familie Paul aus Magdeburg im Sommer 1989.

Junge im blauen Trainingsanzug auf einer Straße

Damals in Magdeburg: Christian Paul bewundert die West-Verwandtschaft Foto: privat

BERLIN taz | Im Sommer 1989 ist Detlef Paul 36 Jahre alt. Der Maschinenbaumeister arbeitet im Konsummühlen- und Teigwarenwerk Magdeburg. Seinen Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee hat er Mitte der Siebziger in Ilsenburg im Harz absolviert. Der Grenzabschnitt ist als „Hauptanlaufpunkt für Grenzverletzer“ bekannt. Marina, seine zwei Jahre jüngere Frau, ist als Exportkauffrau in den Möbelwerken der Stadt beschäftigt. Lange hat das Paar bei den Behörden um eine Vierzimmerwohnung in der Plattenbausiedlung im Norden der Stadt gekämpft, jetzt haben sie sich gemütlich eingerichtet – so wie auch ihr Leben im Sozialismus. Scheinbar.

Ihre Wochenenden verbringen die Pauls oft im Garten. Regelmäßig sind die Großeltern zu Besuch. Manchmal auch Tanten und Onkel aus Heilbronn. Dann hält die weite Welt Einzug im Plattenbau. Der jüngste Sohn Christian erinnert sich, dass die Westverwandten schicke Klamotten trugen, tolle Autos fuhren und „dass es im Bad immer so gut nach Duschgel roch, wenn sie da waren“. In der Vorstellung des Neunjährigen duftet der Westen süßlich. Und die Westdeutschen wirken „selbstbewusster und irgendwie lässiger“, jedenfalls die Verwandten, die die Pauls am Magdeburger Wohnzimmertisch mit ordentlich Witz entertainen. „Rückblickend war das natürlich totaler Schwachsinn“, sagt Christian am Küchentisch seiner Dreizimmerwohnung in Prenzlauer Berg, wo er heute wohnt. „Das waren ganz bodenständige Schwaben.“ Der 39-Jährige lacht. Mit seinen weichen Gesichtszügen, dem vollen Haar, der großen schlanken Statur wirkt er jünger.

Fahren die Onkel und Tanten zurück nach Westdeutschland, lassen sie Zweifel bei Marina und Detlef Paul zurück. Auch zwei genehmigte Familienbesuche – anlässlich von runden Geburtstagen dürfen die Eheleute getrennt voneinander in den Westen reisen – führen ihnen die Enge der DDR vor Augen. Der Magdeburger Alltag ist kräftezehrend, die Beschaffung von Lebensmitteln, Werkzeugen oder Baumaterialien beschwerlich. In Detlef Pauls Erinnerung ist es ein ständiges „Kämpfen, Drücken, Suchen, Machen, Tun“ – auch wenn man sich im Freundeskreis und unter Nachbarn hilft. Und dann ist da der Reservedienst, den Kanonier Detlef Paul bei der Nationalen Volksarmee regelmäßig leisten muss. Manchmal wird er von einem Tag auf den anderen einberufen. Seine Söhne, das nimmt sich Detlef Paul vor, sollen später keine Uniformen anziehen müssen.

Christian beschreibt sich als „fröhlichen Jungen mit blonden Haaren“, ein verträumtes Kind. Oft schaut er aus dem Fenster. In der Ferne kann er die Lichter der Autos auf der E 30 sehen, der Autobahn, die von Berlin über Magdeburg nach Westen führt. Aber Christian interessiert sich mehr für das Wetter und die Natur, auf dem Balkon hängt ein Thermometer, täglich guckt er nach, wie weit das Quecksilber steigt oder fällt.

Bei einer Sichtung zur sportlichen DDR-Nachwuchsförderung wird er für Schwimmen ausgewählt. Wie sein älterer Bruder auch, geht Christian nun fünf Mal in der Woche nach der Schule zum Training. Das tägliche Schwimmen findet er anstrengend. Nun bleibt weniger Zeit, um mit den Freunden zu spielen oder um im Westfernsehen – im Bördebogen wird Sat.1, ARD und ZDF empfangen – seinen Lieblingstrickfilm „Tom und Jerry“ zu schauen.

Urlaub am Goldstrand

Für Juli 1989 haben die Pauls über die Gewerkschaft und die Möbelwerke einen Ferienplatz in Varna in Bulgarien zugeteilt bekommen. Der 2.000 Kilometer entfernte Goldstrand am Schwarzen Meer ist bei DDR-Bürgern ein beliebtes Reiseziel, der dreiwöchige Ferienplatz eine glückliche Fügung. Christian freut sich auf die Ferien „im richtigen, exotischen Ausland“. Er ist gespannt auf die für ihn gigantische Reise durch die ČSSR, durch Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Vor der Abreise haben seine Eltern die Familienalben und wichtige Unterlagen bei Nachbarn deponiert, den Fotoapparat aber vergessen sie mitzunehmen.

Am frühen Morgen des 1. Juli steigen die Pauls in ihren Trabi und fahren 600 Kilometer weit ins tschechische Brno. Zwölf Stunden dauert die erste Etappe, der Trabant 601 (Baujahr 1970) bringt es auf gerade einmal auf 80 Kilometer in der Stunde. In einem Vorort von Brno wollen sie das zuvor reservierte Quartier beziehen und sind überrascht, als man sie abweist. Auch in anderen Unterkünften werden sie fortgeschickt. Erst als Detlef Paul 20 Westmark über den Tresen schiebt – für die Magdeburger ein Vermögen –, erhält die Familie ein Zimmer. Den vollen Preis für die Übernachtung müssen sie trotzdem zahlen. Eine bittere Erfahrung, die sich wie ein roter Faden durch die Transitländer ziehen wird. DDR-Bürger werden in den sozialistischen Bruderländern wie Deutsche zweiter Klasse behandelt. Einen Schlafplatz bekommt, wer Westmark vorweisen kann.

Am nächsten Tag begibt sich die Familie auf ihre zweite Etappe von Brno an den Balaton. Doch hinter der ungarischen Grenze verlässt der Trabi die Autobahn in Richtung österreichische Grenze. Von der Kleinstadt Sopron im äußersten Nordwesten Ungarns sind es nur gut 15 Kilometer bis zum Neusiedler See – auf der Seite des Klassenfeindes. „Aus den Straßen wurden Feldwege, dann kam schon der Schilfgürtel“, erinnert sich Christian. Hier wollen die Pauls das Auto abstellen und aussteigen. „Halt!“, „Stehen bleiben!“, „Aussteigen!“, plötzlich stehen ungarische Grenzsoldaten vor dem Trabi. Aber Detlef Paul ist vorbereitet – oder er improvisiert. Beim Aussteigen greift er zur Landkarte, klappt sie vor den Augen der Grenzer auf und deutet auf ein Schwimmbadsymbol. Locker habe sein Vater gewirkt, als er auf die Grenzer zuging, sagt Christian. Er dagegen habe „richtig Angst gehabt“. Die ungarischen Grenzer wirken erleichtert, dass sich die Familie aus der DDR nur verfahren habe (oder: scheinbar nur verfahren hat), „vielleicht weil sie froh waren, dass sie uns nicht festsetzen mussten“, sagt Christian. Die Familie wird zurück auf die Autobahn geschickt. Während der Weiterfahrt ist die Stimmung getrübt.

Die Fluchtpläne lösen zwiespältige Gefühle aus

Dass seine Eltern während ihrer Ferienreise versuchen würden, in den Westen zu fliehen, hatte Christian bereits einige Wochen zuvor von seinem älteren Bruder erfahren. Vor dem Einschlafen hatte Matthias ihm anvertraut, „dass sie wahrscheinlich abhauen werden“. Seitdem arbeitet es im Kopf des Neunjährigen. Einerseits freut er sich – „Juhu!“ – auf den Westen und dass er dann nicht mehr zum Schwimmtraining muss. Andererseits denkt er an die Klassenkameraden, die er zurücklassen würde. „Das waren gemischte Gefühle, zwischen ängstlich und freudig, das wechselte sich ab“, sagt Christian rückblickend. Auch aus heutiger Sicht findet er die Ausreisegründe seiner Eltern berechtigt, obwohl es schwierig sei, sich in sie hineinzufühlen. „Irgendwie war klar, dass sie das Richtige tun“, sagt Christian. „Es hat ja auch einiges bedeutet, von vorne anzufangen.“

Am 4. Juli 1989 erreicht der Trabi der Pauls die ungarische Grenzstadt Makó, am darauffolgenden Morgen werden sie Rumänien durchfahren. Auf die Passage haben sich Christians Eltern vorbereitet. Schon in Magdeburg haben Freunde und Kollegen sie vor dem heruntergekommenen Land gewarnt, in dem es Benzin – wenn überhaupt – nur gegen Talons zu horrenden Preisen, der Liter Benzin für 4,20 Ostmark, gibt. An dessen Transitstraße verwahrloste Kinder Steine auf vorbeifahrende Autos werfen würden, wenn man ihnen keine Süßigkeiten gebe. Die Pauls haben deshalb einen Extrakanister für Benzin mitgenommen, auch ein Beutel mit Bonbons liegt im Kofferraum.

Ein paar Kilometer hinter der Grenze erlebt Christian „seinen Rumänienschock“, wie er sagt, den ersten Kulturschock seines Lebens. Die asphaltierte Straße verwandelt sich in eine Schlaglochpiste, auf der Eselskarren fahren. Zutiefst erschüttert den Neunjährigen der Anblick der vielen Kinder, die, in Lumpen gekleidet, den vorbeifahrenden Trabi bedrängen und nach jedem einzelnen Bonbon rennen, die die Mutter händeweise aus dem Beifahrerfenster wirft.

Kein Ausweg in den Westen in Bulgarien

Am fünften Tag ihrer Safari durch den Sozialismus erreichen die Pauls das Feriendorf in Varna. Dass das Wasser des Schwarzen Meers so warm ist, freut Christian. Auch dass es jeden Tag buntes Eis am Stiel gibt. Die Pauls entspannen sich ein paar Tage in der bulgarischen Hafenstadt und setzen noch einmal alles auf eine Karte.

An der Grenze zur Türkei lebt eine türkischstämmige Minderheit. Der Verkehr in Richtung Landesgrenze ist rege. In die Autokolonne vor dem Übergang reiht sich auch der Trabi der Magdeburger ein. Detlef Paul hofft, dass die Familie im Strom der Reisenden am Schlagbaum vorbeikommt. Doch wieder werden sie von Grenzern gestoppt. Diesmal zeigt Christians Vater mit dem Finger auf der Landkarte auf archäologische Ausgrabungsstätten. Eine Flucht mit Todesgefahr? Nie hätte er sie seiner Familie zugemutet, sagt Detlef Paul heute. „Ich war Grenzer, ich wusste, wie gefährlich Grenzen sind.“

In Burgas unternimmt die Familie den letzten Fluchtversuch der Reise. Im Hafen will Christians Vater mit Westgeld vier Tickets für die Fähre nach Istanbul kaufen. Die Frau am Schalter hat die Billets bereits ausgestellt. Jetzt schiebt Detlef Paul der Verkäuferin zwei DDR-Reisepässe über den Tresen, die ihm und seiner Frau für ihre Westbesuche ausgestellt worden waren. Als die Frau diese sieht, schließt sich das Fenster am Schalter. Die Pauls geben sich geschlagen.

Der Vater schreibt an Erich Honecker

Zurück in Magdeburg ist Christian „nur ein bisschen traurig“, wie er sagt, dass die Sache mit dem Westen nicht geklappt hat. Bei seinen Eltern aber liegen die Nerven blank. Die gescheiterten Fluchtversuche, die Korruption in den sozialistischen Bruderstaaten, die verwahrlosten Kinder in Rumänien wirken wie eine Offenbarung. Detlef Paul ist „sauer, stinksauer“, wie er heute sagt. Er verfasst einen gepfefferten Brief an den Staatsratsvorsitzenden der DDR: „Werter Genosse Honecker!“, beginnt das mit Schreibmaschine eng beschriebene Papier vom 10. August 1989. „In diesem Jahr, nach 14jähriger Ehe und sparsamem Leben, haben wir uns den ersten großen Urlaub geleistet. Wir wollten unsere Bruderländer kennenlernen und dann diese Enttäuschungen.“

Eigentlich müsste er den Brief mal wieder lesen, sagt Christian und schmunzelt. Absurd erscheint ihm aus heutiger Sicht der Wagemut des Vaters, eine Eingabe an den ersten Mann im Staat zu formulieren. Mit einem Motivationsschub seien seine Eltern von der Sommerreise zurückgekehrt, erinnert er sich an die ersten Augusttage des Jahres 1989.

Brief von Vater Detlef Paul an Erich Honecker

„Ich habe keine Kraft mehr – ich werde hier krank! Wir bitten Sie, geben Sie unserem Anliegen statt. Wir wollen einen Neuanfang!“

Sein Schreiben an Honecker schließt Detlef Paul damals mit den Worten: „Meine Erwartungen und Zukunftsvorstellungen sind grundlegend zerstört. Nach meiner Urlaubsreise habe ich sogar Zukunftsängste! Ich habe keine Kraft mehr – ich werde hier krank! Wir bitten Sie nur um eins, geben Sie unserem Anliegen statt. Wir wollen einen Neuanfang!“

Nun ist es offiziell: Familie Paul hat ihren Ausreiseantrag gestellt.

Die Stasi lädt vor, eine Bekannte hilft

Vier Mal werden Christians Eltern in den kommenden sechs Wochen vorgeladen. Bei der Staatssicherheit wird dem Ehepaar mit einem Ermittlungsverfahren wegen Devisenschiebung gedroht: Weil die Pauls in Bulgarien Westmark aus der DDR ausgeführt haben, werden sie einer Straftat bezichtigt. Dann wird der Fall an die Abteilung Inneres der Stadt Magdeburg übergeben. Dort arbeitet Frau Frost, eine Freundin der Familie. Als sie die Akte entdeckt, reißt sie den Fall an sich. Immer wieder redet sie ihnen ins Gewissen, sie mögen doch auf dem rechten Weg bleiben und an die Zukunft ihrer Kinder denken. In der BRD gebe es Arbeitslosigkeit, bettelnde Menschen und Drogen. Während der Gespräche stoppt die Sachbearbeiterin einige Male das Aufnahmegerät. Einmal, um den Pauls zu sagen, dass ihr Antrag chancenlos sei: „Ihr kommt hier nicht raus!“, allein deshalb, weil Detlef Paul als ehemaliger Grenzer zu viel über die Grenzanlagen weiß. Am 28. September 1989 stoppt Frau Frost das Band erneut: „Fahrt nach Prag!“, sagt sie. „Dort tut sich was.“

Mittelter Mann mit Bart und kurzer Jacke

Heute in Berlin: Vor fast 30 Jahren ging Christian Paul mit seiner Familie in den Westen Foto: Axel Völcker

Noch am selben Abend bricht Familie Paul mit zwei befreundeten Ehepaaren in Richtung Prag auf. Im Zittauer Gebirge fällt die Lichtmaschine des Trabants aus. Sie lassen den Wagen stehen und verteilen sich auf die anderen Autos. Weil der Grenzübergang Zinnwald-Georgenfeld an diesen Tagen stärker kontrolliert wird, fahren die Magdeburger einen Umweg.

In der Prager Innenstadt laufen sie zur bundesdeutschen Botschaft. Einen Tag später wird Hans-Dietrich Genscher hier in seiner legendären Balkonrede jubelnden DDR-Bürgern erklären, dass ihre Ausreise möglich ist. Doch dies ahnt Familie Paul zu diesem Zeitpunkt nicht.

Der kurze Aufenthalt in der Prager Botschaft

Vor dem Palais Lobkowicz laufen Polizisten und Soldaten hin und her, jedoch nicht um den Zaun der Botschaft zu bewachen, glaubt Christian sich zu erinnern. Im Park dahinter sieht er eine Reporterin und ein Kamerateam. „Hoffentlich sieht Oma uns nicht in den Nachrichten“, sagt Christians Mutter. Vor dem Zaun liegt eine große hölzerne Kabeltrommel. Christian beobachtet, wie einige Menschen hinaufsteigen und von dort aus über das Gitter klettern. Bloß nicht Mutti und Vati verlieren, geht es ihm durch den Kopf.

„Hier, der Kleine, komm mal vor“, sagen die fremden Männer auf der anderen Seite des Zauns, als er herantritt. Dann geht alles ganz schnell. Plötzlich greifen die Männerhände durch die Eisenstäbe nach seinem Jackenrevers und ziehen ihn über den Zaun. „Wie so ein Fahrstuhl“, erinnert sich Christian. In seiner Küche in Prenzlauer Berg fasst er jetzt mit den Händen das unsichtbare Jacken­revers von damals und schiebt es Handgriff für Handgriff in Richtung Zimmerdecke. Er wisse gar nicht mehr, ob er von einem oder mehreren Männern über den Zaun gehievt worden sei, sagt Christian: „Das geschah einfach mit mir.“ Als erstes Familienmitglied steht er nun auf dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik und sorgt sich: „Schafft Mutti es über den Zaun?“ Nach und nach erreichen alle die andere Seite.

Auf dem Botschaftsgelände herrschen katas­trophale Zustände. Etwa 4.000 Flüchtlinge verharren hier, viele schon seit Wochen. Die Menschen sehen ungepflegt aus, einige liegen lethargisch auf Feldbetten, die sanitären Anlagen sind völlig überlastet. In die schlammige Parkanlage hat das Deutsche Rote Kreuz Zelte gestellt. Die Magdeburger sind schockiert. „Die Kinder können hier nicht bleiben“, sagt Christians Mutter. Die Familie entscheidet sich dafür, das Gelände zu verlassen. Vorher wollen sie sich jedoch als Ausreisewillige registrieren lassen. So, sagen die mitreisenden Freunde, stünden sie im diplomatischen Fokus der Bundesrepublik und würden im Ernstfall beschützt. Nach nur vier Stunden verlässt Familie Paul die Prager Botschaft „durch die Vordertür“, wie Christian heute sagt.

Wieder fahren die Pauls nach Magdeburg. In den nächsten Tagen verändert sich die Stimmung in der Stadt, es rumort. Montags skandieren die Magdeburger nun „Wir sind das Volk“ auf dem Domplatz. In den Schulen, Büros und Fabriken bleiben immer mehr Plätze leer.

„Sie können ausreisen, sofort“

Anfang Oktober 1989 werden Marina und Detlef Paul von der Stasi geladen. „Sie können ausreisen, sofort“, sagt der Mitarbeiter und übergibt dem Ehepaar die Urkunde zur Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft. Christian und Matthias dürfen nicht mehr zur Schule gehen. In den Pausen besucht Christian seine Mitschüler auf dem Schulhof. Seine Klasse sammelt Geld für einen Teddybären, von seiner Lehrerin erhält er einen lieben Abschiedsbrief.

Detlef Paul erbittet sich vier Wochen Zeit bis zur Ausreise und verkauft den Garten, die Möbel, den Trabant. Familie und Freunde werden in die bevorstehende Ausreise eingeweiht. Dann wird die Mauer geöffnet. Aus seinem Kinderzimmer sieht Christian die Lichter der Autokolonnen auf der E 30, die nach links in Richtung Berlin und nach rechts in Richtung Braunschweig abbiegen.

Christians Vater plagen Zweifel: Ist es richtig zu gehen? Sollen wir doch bleiben? Was wird uns im Westen erwarten? Er hadert, hat vor lauter Stress Gewicht verloren. Bei einer Körpergröße von 1,90 Meter wiegt er nur noch 60 Kilogramm.

16. November 1989: Als Familie Paul in Heilbronn aus dem Zug steigt, scheint die Sonne. Es ist ein für November ungewöhnlich milder Tag.

Der Text erscheint am 7. August in längerer Form in dem Buch „Ständige Ausreise. Schwierige Wege aus der DDR“, herausgegeben von Jana Göbel und Matthias Meisner im Ch. Links Verlag.

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