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Richtung Abgrund

Der politische, soziale und wirtschaftliche Druck in Deutschland wächst. Jana Simon zeichnet anhand verschiedener Lebensgeschichten ein Bild davon, ein düsteres

Lockeren Schrittes in den Hass. Alexander Gauland hat eine Menge Bodyguards Foto: Murat Tueremis

Von Anja Maier

Es ist Mitte Juni 2018, spätabends in Rheinland-Pfalz. Alexander Gauland lehnt sich gegen die Wand eines Hotelfahrstuhls und sagt zur Reporterin: „Manchmal wache ich nachts auf und denke, das hättest du dir so auch nicht vorgestellt.“

Gauland ist zu diesem Zeitpunkt 77 Jahre alt, er ist Bundessprecher der rechten Alternative für Deutschland und deren Fraktionschef im Bundestag. Dass ihm seine rasante Karriere vom gutbürgerlichen Konservativen zum hetzenden Rechtspopulisten manchmal selbst ein bisschen unheimlich vorkommen könnte, scheint logisch. Selten hat ein Mensch so öffentlich seine bürgerlichen Überzeugungen und Manieren abgestreift, um auf die dunkle Seite der Mitmenschlichkeit zu wechseln. Aber das ist es nicht, was Alexander Gauland umtreibt. Sondern die Wucht, mit der er und seine Partei das ganze Land herausfordern.

Gauland ist eineR von sieben ProtagonistInnen in „Unter Druck. Wie Deutschland sich verändert“, dem Buch der Zeit-Journalistin Jana Simon. Simon begleitet darin über fünf Jahre hinweg Menschen, deren jedeR für einen gesellschaftlichen Bereich steht. Die Idee, an Personen dranzubleiben und ihren jeweiligen Lebensweg über einen längeren Zeitraum zu reportieren, ist ein Glücksfall. Und eigentlich ist das etwas, was sich sehr viele JournalistInnen wünschen, nachdem sie interessante ProtagonistInnen einmal getroffen haben und sie hernach wieder ziehen lassen müssen. Für so vieles fehlen in dieser Branche die Zeit, die Kapazitäten, das Geld.

Besonders großen Raum nimmt die Beobachtung von Alexander Gauland ein. Jana Simon begleitet den einstigen Herausgeber der Märkischen Allgemeinen Zeitung von seinem politischen Abschied von der CDU 2013, deren Mitglied und politischer Akteur er vierzig Jahre lang war, bis zum Winter 2018 in sein Bundestagsbüro. Zu diesem Zeitpunkt ist aus den Parlaments-Newcomern der AfD bereits eine inhaltlich dissonante, von Skandalen geschüttelte Truppe geworden. Gauland trennt nur noch ein My von der extremen Rechten.

Jana Simon: „Unter Druck“. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2019, 226 S., 20 Euro

Jana Simon arbeitet gut heraus, was der Antrieb dieses Mannes ist. Gauland ist ein gekränkter alter Mann, der meint, mit der CDU-Parteimitgliedschaft vor Jahrzehnten das Recht auf Deutungshoheit erworben zu haben. Für einen wie ihn ist eine Person wie Angela Merkel eine Provokation. Um ihr zu schaden, umgibt er sich sogar mit intellektuellen Tieffliegern. Es sei Merkels Agenda, „die Nationalstaaten in Europa durch den Zuzug von Flüchtlingen aufzulösen“, gibt er der Journalistin gegenüber zu Protokoll. Auf die Frage, ob er das tatsächlich glaube, antwortet ihr Gauland: „Doch! Doch! Doch!“ Man darf sich Gauland als sozial und intellektuell isolierten, bitterbösen Menschen vorstellen.

Es wäre schier unerträglich, allein den Tiraden dieses Mannes über mehr als 330 Seiten zu folgen. Gauland und seine GesinnungsgenossInnen hätten ja kein so leichtes Spiel, wenn in diesem Land alles zum Besten stünde. Aber der Druck, er wächst auf die Leute, die dieses Land tragen und die Jana Simon immer wieder trifft. Der Neoliberalismus verunsichert diese Menschen. Sind sie noch fit genug, gut genug, reich genug, um bis zur Rente durchzuhalten? Sind sie Teil des Aufstiegsversprechens?

Die Krankenpflegerin Bozena Block aus München, der Polizist Thomas Matczak, die Kindergärtnerin Katrin Reichenbach und ihr Mann Jörn, ein Ingenieur? Selbst der einstige Bundesbanker Jörg Asmussen und die Berliner Influencerin Lisa Banholzer sagen: Nein. Ihre Arbeitswelt wird stetig enger getaktet, der Wohnungsmarkt immer angespannter, die Zukunft ihrer Kinder immer ungewisser. Zugleich bemühen sie sich alle, moralisch zu bleiben, ein anständiges Leben zu führen, niemandem zu schaden. Es gelingt ihnen immer weniger.

„Unter Druck“, so viel darf man sagen, ist schwere Kost. Die Geschichten der ProtagonistInnen sind ausgezeichnet geschrieben. Man bleibt interessiert dran, auch weil sich in den Leben dieser sieben Menschen die politische Entwicklung des ganzen Landes widerspiegelt. JedeR weiß vom Thüringer NSU, mit dem sich Polizist Matczak beschäftigt. JedeR kennt den Dieselskandal, an dessen Folgen die Familie Reichenbach leidet. Alle wissen von der Pflegekrise, die die bienenfleißige und doch immer verbitterter werdende Bozena Block trägt. Selbst die Frage, was verdammt noch mal so eine Influencerin eigentlich treibt, beantwortet dieses Buch.

Was es nicht erfüllt, ist der dringende Wunsch nach etwas Positivem, nach einem Lichtblick. Gilt nicht auch die Krise, die umfassende zumal, als Treibstoff für Selbstermächtigungen und politisches Engagement? Gibt es keine Menschen, die der ganze Hass zu ihrem besseren Selbst führt?

Liest man Jana Simons Buch, scheint dieses Land unaufhaltsam auf den gesellschaftlichen Abgrund zuzutreiben. Hetzer wie Gauland, Weidel, ­Höcke müssten nur abwarten und weiter eskalieren, bis der Wagen bricht. So ist es aber nicht, zum Glück. Man hofft, Jana ­Simon möge die anderen, Mut stiftenden Geschichten auch noch aufschreiben.

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