Kampf um die schweigende Mehrheit

Nach dem Erfolg des AfD-Oberbürgermeisterkandidaten herrscht in Görlitz keine Panik. Denn noch könnte ein breites Bündnis Sebastian Wippel im zweiten Wahlgang verhindern

Polizist, AfD-Landtagsabgeordneter und Kandidat für den Posten des Ober­bürgermeisters in Görlitz: Sebastian Wippel bei der Wahlparty seiner Partei am 26. Mai Foto: Sebastian Kahnert/dpa/picture alliance

Aus Görlitz Michael Bartsch

Kurz nach der Kommunalwahl in Görlitz lächeln die Oberbürgermeisterkandidaten nach wie vor von den Plakaten herab: Die Grüne Franziska Schubert, oder auch Octavian Ursu von der CDU. Oder sie schauen forsch entschlossen, wie Sebastian Wippel von der AfD, der mit 36,4 Prozent der Wählerstimmen im ersten Wahlgang vorn lag. Also geht die Wahl in die zweite Runde. Am 16. Juni genügt dann eine einfache Mehrheit für den Wahlsieg.

Der erste AfD-Oberbürgermeister in Deutschland ist noch zu verhindern – so lautet der Tenor vor allem unter jüngeren Leuten, die man in Görlitz anspricht. Dazu müssten allerdings entweder Ursu oder Schubert zurückziehen und die Gegenkräfte bündeln. Auch die Wähler der mit 5,5 Prozent abgeschlagenen Linken Jana Lübeck könnten dieses Lager verstärken. Sie hat bereits ihre Kandidatur zurückgezogen.

Doch statt eine Absprache zu treffen, preschte der mit 30,3 Prozent zweitplatzierte Ursu vor und verkündete bereits am Montagmittag, erneut antreten zu wollen. Die Regionalausgabe der Sächsischen Zeitung feierte dies als „Ursus Kampfansage“. Sie gilt in Görlitz als CDU-nah, lag mit einer angeblich repräsentativen Umfrage vor dem ersten Wahlgang mit einer 40-Prozent-Prognose für Ursu um zehn Punkte daneben. Die „Bürger für Görlitz“ hingegen sehen in diesem Alleingang das alte Platzhirsch-Gebaren der CDU. Die Wählervereinigung unterstützt die nur rund zwei Prozent hinter Ursu liegende Franziska Schubert.

Die CDU könne sich nur schwer daran gewöhnen, nicht mehr die erste Geige in Görlitz zu spielen, sagt eine junge Frau aus der Tourismusbranche auf der Straße vor dem Schubert-Büro. Bei der Bundestagswahl 2017 verlor hier der spätere Ministerpräsident Michael Kretschmer spektakulär sein Bundestagsmandat an die AfD.

Der freundliche Ursu gilt nicht nur dieser Frau als blass und als Opportunist. Er solle deshalb zurückziehen, sagt sie. „Der macht, was alle machen. Wir brauchen aber frischen Wind.“ Dann outet sie sich als Fan der 37-jährigen Franziska Schubert. Die will mit Ursu reden und muss bis Freitagnachmittag über ihre erneute Kandidatur entscheiden.

Drei junge Männer kommen die Straße herunter. Sie sind anerkannte Flüchtlinge aus Afghanistan und Syrien. Von den politischen Zielvorstellungen der Parteien verstehen sie wenig, aber sie geraten auch nicht in Panik bei dem Gedanken an einen AfD-Oberbürgermeister. Seit ihrer Ankunft vor drei Jahren haben sie sich an die erstarkende Rechtspartei gewöhnt und an die gelegentlichen Anpöbeleien: „Geh zurück in dein Land!“ „Görlitz ist nicht gut, aber anderswo ist es auch nicht besser“, sagen sie. Von den meisten Bürgern schlage ihnen kein Hass entgegen, und wichtiger als die nur teilweise freundliche Atmosphäre sei ihnen eine erfolgreiche Arbeitssuche.

Das Misstrauen der Rechtswähler gilt nicht nur den Flüchtlingen, sondern auch den polnischen Nachbarn. Wie meistens rechtfertigt die rückläufige Statistik der Grenzkriminalität an der Neiße das Ausmaß der gefühlten Unsicherheit nicht. Aber jeder Autodiebstahl, jeder gefasste Drogenhändler ist einer zu viel. Der AfD-Mann und Polizist Wippel setzte voll auf diese Trumpfkarte, und CDU-Konkurrent Ursu versuchte ihn mit dem Gestus des schützenden Patriarchen zu imitieren. Doch von Panik ist gerade bei Frauen, die sich angeblich nachts nicht mehr auf die Straße trauen, kaum etwas zu spüren.

Zwischen den beiden OB-Wahlgängen ist Görlitz also keineswegs in Aufruhr geraten. Hinter der wahrnehmbaren Gelassenheit aber stecken auch bedenkliche Haltungen. Einige sechzehnjährige Schüler der Europaschule Augustum-Annen-Gymnasium erzählen, dass sie die Neißestadt nach dem Abitur auf jeden Fall verlassen wollen. Ein AfD-Oberbürgermeister – „Der Typ ist scheiße“, sagen sie – könnte diesen Trend noch verstärken.

„Der macht, was alle machen. Wir brauchen aber frischen Wind“

Görlitzerin über den CDU-Kandidaten Octavian Ursu

„Jugendliche wollen ihn nicht“, sagt die Wortführerin der Gruppe. Das hat auch einen sehr konkreten Grund: Sie wissen, dass die AfD landesweit die soziokulturellen Zentren beispielsweise mit Landtagsanfragen durchleuchtet und hinter ihnen den alten kommunistischen Feind wittert. Auch die beiden populären Görlitzer Jugendklubs „Basta“ und „Rabryka“ könnte es nach Aussagen Wippels im Wahlkampf erwischen. Ein junger Mann aus der Gruppe glaubt allerdings nicht, dass es so schlimm kommt. „Erst mal abwarten, was die AfD macht“, sagt er.

Im Rabryka-Verein „Second Attempt“ zeigt auch der Vorsitzende Christian Thomas keine Panik. Ein sehr wohlwollender Eigentümer der Industriebrache an der Bautzener Straße lässt kreativen Initiativen und einem Bioladen freien Raum. 130.000 Euro institutionelle Förderung erhält der Verein jährlich, und die sieht Thomas trotz der AfD, die mit nunmehr 30 Prozent stärkste Fraktion im Stadtrat ist, nicht in Gefahr. Pikant ist allerdings, dass der bis 2012 amtierende ehemalige CDU-Oberbürgermeister Joachim Paulick den Klubs 2011 schon einmal den Geldhahn zudrehen wollte. Paulick schult heute AfD-Kommunalpolitiker. Erst aus dem Widerstand gegen diese Kürzungen entstand 2013 überhaupt der Verein mit dem Jugendklub Rabryka.

Im Gerhart-Hauptmann-Theater zeigt sich Generalintendant Klaus Arauner von der Größenordnung des AfD-Erfolgs, vor allem bei der Europawahl, überrascht, bei der OB-Kandidat Wippel auch Stimmen zog. Er ist überzeugt, dass die AfD-Wähler des ersten Wahlgangs auch in zwei Wochen so abstimmen werden. Es komme eben auf ein Zusammengehen der Mehrheit von Bürgerbewegungen über Grüne und SPD bis zur CDU an.

Einen Kulturkampf befürchtet Arauner wegen dieser Mehrheiten in Stadtrat und Kreistag nicht. Selbst dann nicht, wenn Wippel tatsächlich Oberbürgermeister werden sollte. Arauners persönlicher Referent Philipp Bormann, mit einer Polin verheiratet, ist insbesondere davon überzeugt, dass die Annäherungsprozesse zwischen sächsischen und polnischen Nachbarn von niemandem mehr zu stoppen sein werden. Nicht von der polnischen Regierungspartei PiS, und auch nicht von einem nationalistischen deutschen Oberbürgermeister.