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„Die radikale Gleichheit ist der Skandal der Demokratie“

Wenn alle mitbestimmen können, ist nicht sicher, was am Ende herauskommt. In dieser Unvorhersehbarkeit liegt der Witz von Volksentscheiden. Das führe zu Verunsicherung, sagt Hannes Glück von der Universität Oldenburg

Interview Marinus Reuter

taz: Herr Glück, demokratische Regierungen werden von Politprofis betrieben, Volksentscheide und -begehren legen hingegen nahe, dass alle Politik machen können. Sind sie deshalb demokratischer?

Hannes Glück: Für den französischen Philosophen Jacques Rancière zeichnet sich die Demokratie gerade dadurch aus, dass sie eine Gemeinschaft der Freien und Gleichen ist, in der es keine letztgültigen Gründe dafür gibt, dass die einen regieren und die anderen regiert werden. Diese radikale Gleichheit ist der Skandal der Demokratie, die bei den antiken Philosophen auch deshalb wenig angesehen war, weil sie ständig Probleme machte. Weil der Demos, das Volk, so unberechenbar ist und eine Gleichheit in Stellung bringt, die mit allen Formen der Institutionalisierung kollidiert. Der Streit darum, wessen Stimme Gehör findet, wer dazugehört und wer nicht, das ist für Rancière Politik. Also ja, jeder und jede kann Politik machen und gerade das zeichnet Politik aus.

Sie sprachen vom Volk als Demos, was versteht man darunter?

Mit der Abschaffung der Schuldknechtschaft im antiken Griechenland galten plötzlich viele als frei und gleich, denen zuvor die Mitsprache verweigert wurde. Diese neuartige Gleichheit des Demos bedurfte keiner weiteren Qualifikationen wie Reichtum oder edle Abstammung. Damit unterscheidet sich das Volk als Demos auch grundlegend vom Volk als Ethnos, das sich auf Blut und Boden oder andere naturalisierte Eigenschaften beruft.

Wie verhält sich dieses Volk zur repräsentativen Regierung der Wenigen?

Keine der Formen, die mit dem Streit des Demos institutionell umgehen, können dieser Gleichheit voll gerecht werden, was aber nicht heißt, dass alle Institutionen schlecht sind. Bei einer großen Anzahl von Menschen wird es schwierig, Dinge gemeinsam zu entscheiden. Dafür braucht es Verfahren, etwa die repräsentative Demokratie. Natürlich gibt es aber eine Tendenz dazu, dass dann die Wenigen herrschen. Tun sie dies im Eigeninteresse, spricht die klassische politische Theorie von Oligarchie. Aber selbst wenn die Fähigsten regieren und dabei das Gemeinwohl im Blick haben, bleibt umstritten, worin dieses besteht.

Volksentscheid-Initiativen wird oft vorgeworfen, ihnen fehle die nötige Expertise.

Der Streit um die Rolle des Expertenwissens handelt davon, ob das Volk überhaupt informiert und vernünftig genug ist, um über so wichtige Dinge zu entscheiden. Und ob wiederum die Experten im Sinne des Volks entscheiden können. Wenn Christian Lindner zu „Fridays for Future“ sagt, Klimaschutz sei eine Sache für Profis, dann ist das ein Beispiel für eine Arroganz und Abwehrhaltung, hinter der sich die Interessen leicht erraten lassen. Im Zusammenhang mit Volksentscheiden und -begehren ist das oft ein Abwehrkampf der institutionalisierten Politik, die verhindern will, dass sich Leute einmischen, die ihre Verfahren stören und die offiziell nichts zu sagen haben. Die Unterscheidung von Experten und Laien lässt sich also auch als Herrschaftsbeziehung beschreiben.

Können Sie das genauer erklären?

Rancière geht von einer radikalen Gegenthese aus, von der Gleichheit der Intelligenzen. Wissensunterschiede gelten ihm als hergestellte, die sich selbst legitimieren. Etwa die Unterscheidung von Lehrperson und SchülerIn, Experten und dem einfachen Volk auf der Straße. Die Leute, die ihre Überlegenheit geltend machen, konstruieren erst den Wissensunterschied und schaffen sich damit ihre eigene Position. Das nennt er Verdummung oder Pädagogisierung. Auch Volksentscheide werden gerne pädagogisch beantwortet, indem man sie mit Aufklärungskampagnen flankiert, die den Leuten vermitteln, was gut für die Demokratie und die Wirtschaft ist. Mit der Gleichheit der Intelligenzen geht Rancière hingegen so weit zu behaupten, dass die Leute ohne die Anleitung einer Autorität politische Entscheidungen treffen können, indem sie es sich selbst beibringen. Gleichzeitig kann Expertise natürlich von allen Seiten als Argument genutzt werden, etwa wenn auf der Straße gefordert wird, dass die Politik den Forschungsstand zum Klimawandel beachtet.

Ist die Demokratie mit der parlamentarischen Herrschaftsform und dem Rechtsstaat identisch?

Rancière zufolge leben wir nicht in Demokratien, sondern in oligarchischen Rechtsstaaten, die mehr oder weniger demokratisch sein können und die weiter demokratisiert werden müssen, aber er würdigt auch die demokratischen Institutionen. Demokratie in seinem streng philosophischen Sinn ist hingegen keine Regierungsform, sondern ein Prinzip der Politik.

Ein anderes Wort für Volksentscheid ist das Plebiszit, in dem das Volk als Plebs steckt. Was bedeutet der Plebs für direktdemokratische Verfahren?

Foto: Elisabeth Pichler

Hannes Glück, 35, promoviert an der Universität Oldenburg zum Denken des französischen Philosophen Jacques Rancière und dessen Emanzipationsbegriff.

Die Plebejer waren in der römischen Antike die, die, wie der Demos, auch noch da sind: neben den Patriziern, dem Adel. Das war lange Zeit ein abschätziger Begriff, der aber auch positiv angeeignet wurde. In der politischen Theorie beispielsweise von Michel Foucault, der vom Plebejischen spricht. Nicht als soziologisch erfassbare Gruppe, sondern als das überzählige und widerständige Element, das in der verfassten Ordnung keinen angemessenen Platz hat oder sich mit dem ihm zugewiesenen Platz nicht mehr zufrieden geben will. Der Plebs erscheint da, wo etwas nicht aufgeht in der Ordnung, wo es knirscht. Das steht in einer interessanten Spannung zum Plebiszit, zum Volksentscheid, und auch zum Staatsvolk oder der Idee der Volkssouveränität.

Worin besteht denn die Spannung?

Der Volksentscheid ist eine Institutionalisierung, doch sie verhindert die Politik nicht komplett. Also Politik im philosophischen Sinne als Öffnung und Veränderung. Diese Politik als Kritik an der bestehenden Ordnung kann alle denkbaren Kanäle nutzen und der Volksentscheid ist einer davon. Formal sind beim Volksentscheid aber nur Staatsbürger im wahlfähigen Alter zugelassen und damit nur ein Teil der in einem Gebiet Anwesenden. Insofern können sich die vom Volksentscheid ausgeschlossenen im Volksentscheid nicht gegen diesen Ausschluss zur Wehr setzen. An dem Punkt wären Formen der Solidarität denkbar. Etwa wie durch Unterstützungsgruppen von Geflüchteten in Hamburg, die dazu beigetragen haben, dass ihre Stimme auch institutionell mehr Gewicht bekommt.

Welche Chancen bieten Volksentscheide für eine andere Politik?

Die Volksentscheide sind vielleicht deshalb ein besonders geeignetes Mittel für Politik im philosophischen Sinn, weil sie vergleichsweise schnell und direkt zu Auseinandersetzungen und Diskussionen, im besten Fall auch zu Entscheidungen führen können. Das kann in bestimmten Situationen gangbarer sein als der Marsch durch die Institutionen. Ich glaube, dass der Unterschied des Volksentscheids gegenüber der parlamentarischen Politik in einem Moment der Verunsicherung und der Unvorhersagbarkeit liegt. Dass es möglich ist, dass etwas völlig anderes passiert. Das Verfahren garantiert nicht, dass etwas Gutes dabei herauskommt, aber der Ausgang ist im besten Fall offener.

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