heute in bremen: „Politisierung der Wohnungsfrage von unten“
Philipp Mattern, 36, Politologe und Herausgeber des Buches „Mieterkämpfe. Vom Kaiserreich bis heute – Das Beispiel Berlin
Realität der Utopie 3 “ (Bertz + Fischer 2018, 212 S, 8 Euro).
Interview Jean-Philipp Baeck
taz: Herr Mattern, unbezahlbar hohe Mieten sind derzeit das große Thema. In Berlin wird die Enteignung großer Immobilienfirmen angestrebt. Sie sagen nun, das sei nichts Besonderes?
Philipp Mattern: Es ist etwas Besonderes, aber nichts Neues. Das ist das Anliegen meines Buches: dass wir eine verdeckte Spur der Mieterkämpfe offengelegt haben, in diesem Fall in Berlin. Es zeigt sich, dass die MieterInnen die Stadt nie passiv bewohnt haben, sondern sich immer für ihre Rechte eingesetzt und das Bild der Stadt mitgeprägt haben.
Welche vergangenen Mieterproteste führen Sie als Beispiel an?
Im Jahr 1872, als auch Friedrich Engels sich mit der Wohnungsfrage beschäftigt hat, da gab es die Blumenstraßen-Krawallen. Da ging es um eine Zwangsräumung einer Tischlerfamilie und den Abriss eines Barackenviertels. Auch wenn die historischen Umstände anders sind: Wenn man die Beschreibungen hört, erinnert es stark an Konflikte, die auch heute stattfinden.
Kann man sagen, ab welchem Zeitpunkt und in welcher Konstellation Menschen wegen zu hoher Mieten aufbegehren?
Buch-vorstellung „Mieterkämpfe“:19 Uhr, Infoladen, St. Pauli-Straße 10–12
Wir benutzen durchaus auch den Begriff der Mieterbewegung, aber eine Konstante gibt es eigentlich nicht. Es kommt immer wieder zu einer Politisierung der Wohnungsfrage von unten, die im Kontext größerer politischer Bewegungen steht: etwa der Arbeiterbewegung, der neue sozialen Bewegung der 68er oder der linken DDR-Opposition.
Was lässt sich für heutige Mieterproteste lernen?
Es immer schwierig mit der Lehre aus der Geschichte. Aber man kann erkennen, dass es schwer zu beurteilen ist, was Niederlagen und was Erfolge sind. Die Blumenstraßen-Krawalle sind zum Beispiel verpufft, es gab zur Kaiserzeit keine staatliche Mietenpolitik. Und umgekehrt gibt es Bewegungen wie die Instand-Besetzungen. Die Leute sind immer wieder rausgeworfen worden, aber auf lange Sicht konnte sich durch so etwas überhaupt die Idee der behutsamen Stadterneuerung durchsetzen. Man darf nicht nur auf die spektakulären Ereignisse schauen, sondern muss langfristige Bewegungen in den Blick nehmen.
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