Kolumne Sternenflimmern: Feierabend-Europa

Es braucht Orte, an denen EuropäerInnen zeigen, wer sie wirklich sind. Auch außerhalb von Wettbewerben, Kunst oder Fußballspielen.

Menschen stoßen mit Bierkrügen an

Man braucht Orte, an denen man die ernsten bis grimmigen Masken abfallen lassen kann Foto: dpa

Ein alternativ-reales Europa findet gerade in Tel Aviv statt. So nennt die wahnsinnig lustige, zuletzt wahnsinnig gedisste Anja Rützel auf Spiegel Online das Chichi um den Grand Prix. Als ich das gelesen habe, dachte ich: Ja! Mehr davon. Neben dem real existierenden Europa, in dem man wählen und verhandeln und ausgrenzen und integrieren muss, bräuchte es viele alternative Realitäten.

Orte, an denen die Europäer tatsächlich das tun, was sie mögen, an denen sie zeigen, wer sie wirklich sind. Feierabend-Europa. Orte, an denen man die ernsten bis grimmigen Masken, die man so im Büro- und Kratie-Alltag trägt, abfallen lassen kann.

Bisher funktionieren solche Feierabend-Realitäten oft über nationale Wettbewerbe, beim Singen oder Fußballspielen oder in der Kunst. Bei ESC, EM oder Biennale: Es geht ums Antreten gegeneinander. Fetzt ja auch, nichts gegen sportlichen Wettkampf. Aber wenn das alles ist, was Europäer unter „gemeinsam Spaß haben“ verstehen, ist es ein bisschen arm.

Alternativrealitäten könnten auch transzendenter sein. Gerade beginnt die Festivalsaison. Dann immerhin wird sich halb Europa unter 40 begegnen, um zusammen Musik zu hören und zu tanzen. Nicht, um sich abzugrenzen.

Wenn ich ehrlich bin, ist es genau das, was mich an der EU insgeheim ein bisschen abstößt, weshalb sie mich oft nervt. Man will was voneinander, ist aber nicht bereit, die Hecke am eigenen Vorgarten fünf Zentimeter niedriger zu trimmen. Oder eine echte, eine gemeinsame Lösung für die Menschen zu finden, die hierher kommen wollen und dabei ertrinken. Statt sie, wenn sie nicht ertrunken sind, am langen Arm verhungern zu lassen.

EU geht nur mit angezogener Handbremse

Es ist fast wie beim Dating. Alle wollen die Vorzüge einer Beziehung, die Sicherheit, nicht allein mit den Deppen, die einem begegnen, fertig werden zu müssen und abends nicht mehr raus zu müssen, um Spaß zu haben. Gleichzeitig wollen alle maximal sie selbst bleiben. (Man hat jahrelang nach sich selbst gesucht, in Auslandspraktika, beim Yoga oder auf Drogentrips, was man da gefunden hat, muss verteidigt werden.) „Kultur“ nennen sie es hier, „Individualität“ dort.

Wer was für den Partner macht (umziehen, Job wechseln), gilt als schwach. Geteiltes Bett, okay, aber bitte mit getrennten Konten.

Dieses blöde Sowohl-als-auch wirkt wie ein emotionales Kondom. Spaß an der EU geht nur mit angezogener Handbremse. Als ich an dieser Stelle vergangene Woche über die Fixierung auf Nationalstaaten gelästert habe, wies mich ein Leser darauf hin, dass „es nie darum ging, eine Art Vereinigte Staaten von Europa zu gründen“. Die Nationalstaatlichkeit sei „immanenter Wesenskern der EU“. Das mag sein.

Andererseits sprachen auch schon George Washington oder, wie etwa 1849 beim Pazifistenkongress in Paris, Victor Hugo eben genau davon. Ob Vereinigte Staaten von Europa eine Alternative wären zur freudlosen Kleinherzigkeit, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass es nie schadet, über Alternativen nachzudenken. Sonst tun es andere.

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