Die Spurenbeseitiger der Nazis

Eine reisende Mördertruppe beseitigte von 1942 bis 1945 die Zeugnisse des Massenmords in Osteuropa. Andrej Angricks akribische Studie über die „Aktion 1005“ schafft neues Grundlagenwissen zur Systematik des Holocaust

Überlebender 1005-Häftling der Lemberger 1005 „Todesbrigade“ vor der Knochen-mühle Foto: Bundesarchiv

Von Klaus Hillenbrand

Wir begannen die Leichen auszugraben. Während unserer Arbeit gruben wir 7 Gruben aus und zogen dort 12.000 Leichen raus. Zum größten Teil waren es Frauen, Alte, Kinder und sogar Säuglinge. Die herausgezogenen Leichen trugen wir auf Bahren zum Scheitholzhaufen hinüber. Dort wurden die Leichen aufgeschichtet und verbrannt. Der Knochenrest wurde dann in Pulver zerstoßen und in alle Winde verweht.“

Die Zeugenaussage des jüdischen Rotarmisten Anatoli Garnik ist eines der wenigen Zeugnisse von zur Mitwirkung bei der Einäscherung Hunderttausender Ermordeter gezwungener Menschen.

Garnik musste 1943 im litauischen Kaunas zwei Jahre zuvor von den Nazis ermordete Juden ausgraben – „enterden“, wie es in der Sprache der Mörder hieß. Er konnte nicht wissen, dass seine grauenhafte Zwangsarbeit Teil eines ganz Osteuropa umspannenden Systems war, mit der die Täter ihre Massenmorde zu verschleiern gedachten. „Aktion 1005“, so nannte sich diese „geheime Reichssache“, die bisher nur in Bruck­stücken bekannt war.

Andrej Angrick gebührt das Verdienst, dieses bisher unterbelichtete Thema akribisch untersucht und sorgfältig aufbereitet zu haben. Sein Buch zählt zur Grundlagenforschung über das NS-System im besten Sinn.

Andrej Angrick: „‚Aktion 1005‘. Spurenbeseitigung von NS-Massenverbrechen 1942–1945“. Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 1.381 Seiten, 79 Euro

Der Beginn der „Aktion 1005“ – der Name geht auf das Aktenzeichen dieser SS-Truppe zurück – war die Folge einer Nachlässigkeit der Massenmörder zu Beginn ihrer Taten. Wohl töteten SS- und Polizeiverbände in furchtbarer Systematik ab 1941 Millionen Juden. Allein, Heinrich Himmler und seine Getreuen hatten sich keine Gedanken über die dabei hinterlassenen Leichenberge gemacht und insbesondere darüber nicht, dass diese die Morde bezeugen würden.

Schon Ende 1941 kursierten rund um Chelmo, wo die Opfer noch vor der Installation der Todesfabriken wie Auschwitz, Treblinka, Belzec und Sobibor in Gaswagen ermordet wurden, Informationen über das Geschehen. Entflohene trugen die Nachrichten weiter. Das war die Geburtsstunde der „Aktion 1005“ unter Leitung von Paul Blobel, der selbst in der Sowjetunion an dem Massenmorden teilgenommen hatte. Seine Aufgabe war es fortan, die Professionalisierung des industriellen Mordens zu perfektionieren – durch das Exhumieren und Verbrennen der Opfer und damit der Beseitigung aller Spuren.

SS-Standartenführer Blobel arbeitete dabei eng mit Adolf Eichmann vom „Judenreferat“ des Reichssicherheitshauptamts wie mit den örtlichen SS-Dienststellen in Osteuropa zusammen. So entstand eine reisende Truppe von Verschleierern, bald ob der umfassenden Aufgabe in einzelne Verbände aufgeteilt und dabei selbst ohne Bedenken mordend. Denn für die grausamsten Arbeiten – der Exhumierung und des Aufschichtens der teilweise verwesten Leichname zwischen Holzstämmen – rekrutierten Blobel und seine Helfer gefangene Rotarmisten und jüdische Zivilisten. Sie alle, das war von Beginn an eingeplant, sollten zum Ende ihrer grauenhaften Arbeit umgebracht werden. Häufig waren sie die Letzten, die auf der Spitze eines Scheiterhaufens verbrannten.

Angrick geht den Spuren dieser Täter nach, von Polen in die Ukraine, weiter nach Weißrussland, ins Baltikum und schließlich nach Polen zurückkehrend. Es begann mit der „Enterdung“ der Ermordeten in den Vernichtungslagern im besetzten Polen, was auch dazu führte, dass deren Kapazitäten nochmals gesteigert wurden. Angrick erspart uns nicht die furchtbaren Details der „Aktion 1005“, nennt die Namen der Beteiligten, die häufig wechselnden Orte des Geschehens und schreibt von der immer drängenderen Eile, mit der diese Mördertruppe ihrem Geschäft nachging.

Denn ab 1942 verlor die Wehrmacht zunehmend an Boden, und so mussten sich die Männer von „1005“ beeilen, ihre Aufgabe zu erledigen, bevor die Massengräber in die Hände der Roten Armee fielen. Letztendlich scheiterte dieser Versuch, denn mehrfach kamen die Täter zu spät. Und es gab wenige Überlebende, so wie Anatoli Garnik in Kaunas oder 14 Entflohene, die sich von Babi Jar bei Kiew zur Roten Armee absetzten konnten.

Paul Blobel wurde am 7. Juni 1951 in Nürnberg hingerichtet. Die Systematik seiner Verbrechen aber ist erst jetzt nachzulesen – in einer umfassenden und erschreckenden Studie.