piwik no script img

Im eigenen Auftrag

Die Suche nach dem Individuum: „Die Ostdeutschen“ ist eine Retrospektive des Fotografen Roger Melis in den Reinbeck-Hallen überschrieben

Von Tom Mustroph

Roger Melis, 2009 gestorben, war ein bekannter Chronist der DDR. Seine Fotografien in der legendären Modezeitschrift Sibylle prägten den Kleidungsstil einer ganzen Frauen­generation. Seine Fotoreportagen über Großbetriebe in Industrie und Landwirtschaft ließen selbst dann, wenn sie in der offiziellen DDR-Presse abgedruckt waren, das Unfertige, das nicht so ganz Funktionierende und damit auch das Persönliche durchscheinen. Seine Künstlerporträts, von Helene Weigel über Stefan Heym, Heiner Müller und Manfred Krug bis hin zu Wolf Biermann, Eva Maria und Nina Hagen machten die Gesichter der Ostkreativen auch jenseits des Grenzzauns bekannt.

Melis’ Ziehsohn und Nachlassverwalter Mathias Bertram hat aus dem etwa 120.000 Negative umfassenden Archiv 160 Arbeiten ausgewählt und in 21 Kapitel unterteilt. Fotoserien von Feiern und Festen sind darunter, vom Arbeitsalltag, von den immer noch Kriegsspuren tragenden Fassaden der Ostberliner Innenstadt, aber auch Aufnahmen aus der Uckermark, in der Melis sich schon lange vor dem Mauerfall ansiedelte, sowie zahlreiche Porträts von berühmten und weniger berühmten Menschen. Nur die Modefotografie ließ Bertram aus. „Das ist inszenierte Fotografie. Wir wollten aber zeigen, wie er die Realität der DDR sah“, begründet er seine Entscheidung.

Wer Bilder vom vorgentrifi-zierten Berlin sehen möchte, ist bei Roger Melis richtig

DDR pur sieht man dann auch. Die lädierten Fassaden von Prenzlauer Berg etwa. Einen Innenhof, auf dem ein Oldtimerliebhaber zärtlich die Karosse seines Gefährts spachtelt. Ebenfalls aus Prenzlauer Berg stammt die Aufnahme eines Wettbüro-Mitarbeiters, der in einem großen Buch säuberlich Einsätze notiert. Das Glück zu versuchen gehörte auch zum Realsozialismus, auch wenn der Wärter des Tors zum Glück wie ein Buchhalters wirkte.

Eine besondere Serie hat Bertram gleich am Beginn des Rundgangs platziert: Soldaten der NVA und Mitglieder der paramilitärischen Verbände der Kampfgruppen am Rande der Parade zum 20. Jahrestag der Befreiung am 8. Mai 1965. Offiziere in NVA-Uniformen, die in Schnitt und Form den Wehrmachtsuniformen sehr ähnlich sehen, schauen auf sowjetische Panzer. Zeitgenossen müssen Déjà-vus aus den 1940er Jahren durch den Kopf geschossen sein. Einfache Soldaten wie­derum haben sich von der Parade verkrümelt und sitzen auf einer langen Reihe von Bänken mit ihren Frauen und Freundinnen. Private Momente inmitten von Motorenknattern und Kettenrasseln.

Melis machte die Serie damals im eigenen Auftrag. Abgedruckt wurden die Bilder nie. Hauptberuflich arbeitete er damals an der Charité als wissenschaftlicher Fotograf. „Er fotografierte Operationen. Und er hat auch mit dem polnischen Arzt Roman Mazur an einem Verfahren gearbeitet, mit dem die Köpfe von Kleinkindern durchleuchtet werden konnten. So konnte man frühzeitig Schädigungen erkennen und dabei auf Röntgenstrahlen verzichten“, erzählt Bertram.

Experimentierfreudig blieb Melis auch nach seiner Zeit bei der Charité. „Er baute sich eine eigene mobile Blitzlichtanlage“, berichtet Bertram. Gewitzt war er auf seinen Fotosafaris durch die Ostberliner Innenstadt. Zwischen 1978 und 1980 nahm er sich dafür jeden Monat einen Tag frei. Wer Bilder vom vorgentrifizierten Berlin sehen möchte, ist bei Melis richtig.

Mittagspause der Stasi

Eine besondere Geschichte ist mit einem Porträt von Manfred Krug verbunden. Es entstand unmittelbar vor dessen Ausreise in den Westen. Melis dokumentierte viele Künstler kurz vor deren Ausreise aus der DDR. Die Dichterin Sarah Kirsch etwa sieht man auf gestapelten Transportkisten, die kyrillische Zeichen tragen. Mit russischem Holz in den Westen, auch das gab es. Ins Haus von Krug traute sich Melis ursprünglich nicht. „Das ist doch ringsum von der Stasi bewacht“, dachte er, erinnert sich Bertram. Jurek Becker indes, selbst ein Reisender zwischen Ost und West, soll Melis aber gesagt haben: „Die Stasi-Leute machen pünktlich um 13 Uhr Mittagspause.“ Genauso war es dann auch: „Die Stasi-Leute gingen in ein Restaurant, und Roger Melis konnte unbehelligt ins Haus“, versichert Bertram.

Die Ausstellung hat Bertram organisiert, um ein differenzierteres Bild von der DDR zu zeichnen. „Es gibt meines Erachtens keine kollektive Identität. Die Fotos zeigen die Vielschichtigkeit“, sagt er. Vom aufgestempelten Label des „Wir“ (oder „Ihr“) zurück zum „Ich“, zum Individuum – diesen Weg schlägt die Ausstellung „Die Ostdeutschen“ vor.

Roger Melis: Die Ostdeutschen. Bis 28. Juli, Reinbeckhallen, Wilheminhofstraße 33, Do. + Fr., 16–20 Uhr, Sa. + So., 11–20 Uhr, Eintritt: 5/3 Euro, freitags geschlossen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen