: Zwei linke Hände? Kein Problem!
Machen wie im Mittelalter: Bei einem freiwilligen sozialen Jahr im Bereich Denkmalschutz können junge Leute ganz neue Seiten an sich entdecken
Von Joachim Göres
„Ich habe die Möglichkeit, mit meinen eigenen Händen etwas zu erschaffen, und zwar auf dieselbe Art und Weise wie es Menschen schon im Mittelalter gemacht haben“, freut sich Christian Boldt über sein soziales Jahr in der Jugendbauhütte Lübeck und fügt hinzu: „Und dass ich dabei noch mit anderen lachen kann, ist das Beste daran.“
Auf enge Zusammenarbeit wird in den 14 Jugendbauhütten, die es in Deutschland gibt, viel Wert gelegt. Dort können junge Leute im Alter von 16 bis 26 ein freiwilliges Soziales Jahr in der Denkmalpflege machen. Archäologie, Architektur, Archiv, Garten- und Landschaftsbau, Gemälderestaurierung, Museumspädagogik, Schiffbau, Steinrestaurierung, Tischlerei, Zimmerei – es gibt ganz unterschiedliche Einsatzorte, je nach Schwerpunkt der jeweiligen Jugendbauhütte. Erfahrene Handwerker, Denkmalpfleger und Architekten leiten die bundesweit rund 650 Freiwilligen an, die jedes Jahr im September beginnen.
„Wir nehmen gerne auch Bewerber mit zwei linken Händen. Für uns ist die Motivation entscheidend, nicht praktische Vorkenntnisse oder Noten“, sagt Ivalu Vesely, Leiterin der Jugendbauhütte Lübeck. Dort sind die Freiwilligen zum Beispiel bei der Restaurierung von Kirchen in der Altstadt von Lübeck und Umgebung, bei archäologischen Grabungen oder als Helfer bei Arbeiten auf Traditionsschiffen im Einsatz. 22 Plätze hat die Jugendbauhütte Lübeck, mehr als 150 Bewerbungen gehen jedes Jahr ein. „Je früher man sich bewirbt, umso größer sind die Chancen bei uns. Ab Mitte Mai sind wir manchmal schon voll“, sagt Vesely.
22 Plätze, mehr als 150 BewerberInnen
Bundesweit machte die Jugendbauhütte Lübeck kürzlich bei der Ausstellung „Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland“ im Berliner Martin-Gropius-Bau von sich reden. Dort bauten FSJlerInnen vor Publikum mit historischen Werkzeugen einen von 40 Holzkellern nach, die bei archäologischen Grabungen im Lübecker Gründerviertel entdeckt wurden. Mit Schrotsägen, Äxten und Breitbeilen wurden 150 Jahre alte Eichenstämme bearbeitet. „Das war körperlich anstrengend, kam aber gut an, weil gerade Kinder viele Fragen hatten und wir ihnen zeigen konnten, wie man mit Ziehmesser und Schrotsäge arbeitet“, berichtet Marie Chauveau.
Die 19-Jährige ist eine von vier Freiwilligen von der mobilen Denkmalpflege der Jugendbauhütte, die an unterschiedlichen Einsatzstellen arbeiten. Sie hat auf einer Werft alte Kanus aufgearbeitet, Streben für Treppengeländer gedrechselt und alte Dachpfannen von einem Schuppen abgenommen, damit sie später wiederverwendet werden können. „Wichtig ist für mich der Austausch in unserem Viererteam. Ich habe keine Vorerfahrung mit solchen Arbeiten, die anderen FSJlerInnen haben viel mehr Ahnung und andere Ziele. Das macht das Ganze so interessant“, sagt Chauveau. Nach dem Abi wusste sie nicht, was sie machen wollte – jetzt will sie Kulturwissenschaften studieren und sich dabei mit dem Erhalt des kulturellen Erbes beschäftigen.
Jannis Gödecke ist einer von zwei FSJlern beim Landesamt für Denkmalpflege in Lübeck. Zu seinen Tätigkeiten gehören Grabungen, die Inventarisierung von alten Funden sowie die Vorbereitung und Leitung von Führungen für Schulklassen. „Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hat mir großen Spaß bereitet“, sieht sich Gödecke in seinem Wunsch bestärkt, bald mit einem Lehramtsstudium zu beginnen. Er stammt aus Halle und wohnt in Lübeck in einer WG.
„Ich bin selbständiger geworden und traue mir mehr zu“, sagt der 19-Jährige, der über die hohen Mieten in Lübeck erschrocken war: „Wir verdienen im Monat rund 400 Euro. Man muss finanziell bescheiden leben können.“ Sein Tipp an Bewerber: Man sollte sich für handwerkliche Tätigkeiten interessieren und sich vorab bei FSJlerInnen Informationen über die Stelle holen, für die man sich interessiert. „Es gibt in anderen Bauhütten teilweise die Gefahr, dass man als günstige Arbeitskraft ausgenutzt wird“, sagt Gödecke, der als Sprecher der Lübecker Bauhüttler Kontakt zu anderen Sprechern hat.
Quedlinburg war 1999 die erste Jugendbauhütte, die von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz initiiert wurde. Heute gibt es in fast allen Flächenländern Standorte, ein Projekt läuft länderübergreifend in Stralsund und im polnischen Stettin. In Hamburg erhalten junge Leute unter Anleitung eines Zimmerermeisters das fast 500 Jahre alte Hufnerhaus, ein reetdachgedecktes Bauernhaus in Allermöhe. Im vergangenen Jahr wurden Fenster restauriert, der Südgiebel gesichert und der ehemalige Schweinestall zur Toilette umgebaut. Ulrich Mumm vom Initiativkreis der Jugendbauhütte Hamburg macht klar, dass es nicht nur um praktische Arbeit geht: „Die Teilnehmer erfahren aber auch, dass es bei der Restaurierung eines historischen Bauernhauses nicht nur einen einzigen richtigen Weg gibt, sondern dass Vorgehensweisen erörtert und abgestimmt werden müssen.“
Mit Ziehmesser und Schrotsäge
Die Jugendbauhütte im Landkreis Stade ist mit einer mobilen interkulturellen Einsatztruppe in Niedersachsen aktiv. 2018 haben die jungen Leute im Freilichtmuseum Hitzacker beschädigte Lehmwände mit selbst angesetztem Lehm ausgebessert und in Ovelgönne-Ketzendorf ein Bauernfachwerkhaus wieder aufgebaut, das heute als Dorfgemeinschaftshaus genutzt wird.
Träger der Jugendbauhütten sind die Internationalen Jugendgemeinschaftsdienste. Bisher haben mehr als 5.000 junge Menschen das freiwillige soziale Jahr Denkmalschutz absolviert, etwas mehr Frauen als Männer. 65 Prozent der AbsolventInnen haben das Abitur, 20 Prozent einen Real- oder Hauptschulabschluss, 15 Prozent eine Ausbildung oder ein Studium absolviert. Drei Viertel von ihnen bleiben danach im Handwerk bzw. beginnen an einer Hochschule mit Architektur, Restaurierung oder einem ähnlichen Studium. Teilweise wird das Jahr als Vorpraktikum für ein Studium oder im Handwerk als erstes Lehrjahr anerkannt.
Laut Silke Strauch, bei der Deutschen Stiftung Denkmalschutz für die Jugendbauhütten zuständig, liegt die Abbrecherquote für das FSJ Denkmalschutz unter fünf Prozent. Sie berichtet von vielen Kontakten, die die jungen Leute bei der Arbeit und auf den Seminaren knüpfen. Und noch etwas freut sie: „Sie erkennen mit der Zeit billige Plastikfenster oder eine schlechte Pflasterung. Nach einem Jahr haben sie einen anderen Blick und schätzen handwerkliche Qualität.“
www.jugendbauhuetten.de
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