: Schön und beängstigend
Auf dürren Beinen nur standen die Errungenschaften der Zivilisation. Kay Voges inszeniert „Die Stadt der Blinden“ nach dem Roman von José Saramago am Schauspielhaus Hamburg
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Von Katrin Ullmann
Während die anderen noch diskutieren, wer sich rauswagt, um die Essensration zu holen, während sie noch über ihre Angst sprechen vor den unberechenbaren Wachleuten, die immer irgendwo präsent sind, und immer zum Töten bereit; während die Gruppe also noch zögernd im Haus beieinander steht, hat er (Ralf Drexler) sich heimlich hinausgeschlichen. Gierig und zaghaft. Zitternd, die Arme nach vorne gestreckt, stolpert er die Treppe hinunter. Tastend sucht er vor dem Haus nach dem Stapel mit den Versorgungskisten. Unsicher und doch zielstrebig sind seine Schritte und zugleich bebt sein nackter, massiger Oberkörper voller Erregung.
Es ist eine hoch ästhetische, fast traumwandlerische Choreografie, die in ihrer irritierenden Schönheit das Grauen der Tat, des Diebstahl, überlagert. Und damit den Anfang des Kriegs in der „Stadt der Blinden“, von Kay Voges dramatisiert am Deutschen Schauspielhaus Hamburg.
Denn der Krieg wird gleich ausbrechen. Der Krieg um das Essen, von dem es zu wenig für alle gibt. Die Gruppe wird sich in zwei Lager spalten, die einen werden die anderen dominieren. Alle – bis auf eine (Sandra Gerling) – sind sie erblindet und von der Gesellschaft außen weggesperrt worden. Gegen die Blindheit, die sich in der Stadt wie eine unaufhaltsame Epidemie ausbreitet, agiert die Regierung mit Quarantäne und Sicherheitsverwahrung; in einem ehemaligen Irrenhaus, hinter Hochsicherheitszäunen. Das Militär bellt Regeln und Befehle über Lautsprecher, die Gruppe Isolierter ist ihm und vor allem sich selbst ausgeliefert.
Sind das biblische Bilder?
Kay Voges bringt die Adaption des Romans des portugiesischen Autors José Saramago aus dem Jahre 1995 am Hamburger Schauspielhaus auf die Bühne, wo der Dortmunder Intendant zum ersten Mal inszeniert. Ihm gelingt etwas Erstaunliches: Er schafft es, in der Erzählung dieser apokalyptischen Parabel Schönheit und Grauen zugleich zu erfassen. Etwa in der Szene des prägnant choreografierten Essensdiebstahls oder später bei einer Leichenwäsche. Dann kauern sich fünf Frauen um die Verstorbene, reichen sich verdreckte Tücher, waschen die erschlafften Gliedmaßen, Hände greifen in Hände, Haare streifen Haare. Die Bewegungen sind tastend, ruhig, das Licht ist weich, die Szenerie fast biblisch. Das Bild erscheint riesig groß.
Schließlich projiziert Voges unablässig alle Filmaufnahmen, die er im grünlichen Inneren des Bühnenhauses erstellt (Live-Kamera: Philip Jestädt, Marcel Urlaub), auf Leinwände und auf die Fassade des Palazzo-artigen Hauses, das Pia Maria Mackert auf die Drehbühne gestellt hat. Überdimensional, ohne Rücksicht auf Dekor und auch mal in Fehlfarben. Die Wirkung ist grandios.
Voges ist ein Theater-Filmerzähler. Mit großer Exaktheit und noch größerer Virtuosität baut er Bilder, erstellt mit dem 21-köpfigen Ensemble einen beeindruckenden Live-Film auf der Bühne, gezeigt im Moment seiner Produktion. Mitten im um sich greifenden Elend, mitten im Schmutz und Hass, der sich in der Gefangenschaft jener Blinden grausam schnell ausbreitet, hält Voges die Kamera zwar auf die dreckige, menschliche Realität, schafft aber zugleich auch alptraumhaft schöne Tableaux vivants. Hier eine stumme Pietà, dort ein verlorenes Kauern, hier eine verzweifelte Sexszene, dort ein exzessiver Tanz. Inmitten des größten Ekels singt sich eine irrlichternde Rosemary Hardy mit Gustav Mahlers „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ aus der Meute.
Dazwischen und dauernd: Gewalt, Gebrüll und unheilvoll dröhnende Sounds (Paul Wallfisch). Der Mensch ist hier längst des Menschen Wolf geworden. Beim Kampf ums Überleben entsteht keine Gemeinschaft, stattdessen regiert die Zerfleischung. Auf dürren Beinen nur standen die Errungenschaften der Zivilisation. Wackelig und ohne Widerstand.
Zumindest im ersten Teil des Abends funktionieren die Romanerzählung und der Live-Film. Später, als der Zaun entfernt wird, als die Kerngruppe sich auf den Weg macht in die Endzeitstimmung, dominiert die Dunkelheit. Nur schlaglichtartig scheint dann Licht auf. Ätzt sich grell ein in die eigene Netzhaut. Die Schauspieler erscheinen dann nur mehr wie Schattenrisse vor der Projektion eines riesigen Auges. Im harten Wechsel blitzt es hell und dunkel. Dazwischen schleppen sich pathetische Dialoge über die Liebe, die Zukunft und die Unsichtbarkeit des Wesentlichen. Wo die Texte zunehmend schwächeln, blenden die Lichter.
Und Kay Voges verhakt sich leider in überflüssigen Ausführlichkeiten. Zum Glück ist in den bisherigen zwei Stunden die beeindruckende und unzerstörbare Protagonistin, Sandra Gerling, schon längst zur ikonischen Retterin geworden, zum Rockstar, zur Prophetin, zur Seherin. Doch man weiß, sie wird als Nächste erblinden – „Ich schaue hoch, jetzt bin ich an der Reihe“ – und das Grauen beginnt von vorn.
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