Stefan Alberti erlebt die Verzweiflung von Marktliberalen über eine Mehrheit, die trotz vieler Probleme weiterhin Rot-Rot-Grün unterstützt: „Wie kriegen wir die alle dazu, wieder klug zu werden?“
Die Verzweiflung ist schier mit den Händen zu greifen. 120, 130 Leute im Saal, meist im Anzug, viele mit Krawatte, die nach Antworten auf die Frage suchen, warum mehr Berliner Wähler denn je Rot-Rot-Grün unterstützen, obwohl nicht nur aus Oppositionssicht vieles in der Stadt nicht gut funktioniert. Auch der Mann vorn am Rednerpult kann da wenig weiterhelfen. Sebastian Czaja, Chef der FDP-Fraktion im Abgeordnetenhaus, ist an diesem Morgen Frühstücksgast bei der Industrie- und Handelskammer (IHK), Heimat der Marktliberalen in Berlin. „Wer Zukunft googelt, landet nie bei Marx“, hat er seinen Vortrag überschrieben und will damit wohl sagen: Linke können keine zukunftsgewandte Politik.
Aber da sind ebenjene 57 Prozent der Berliner, die in Umfragen genau diese linke, genauer: rot-rot-grüne Koalition unterstützen, die 2016 mit gerade mal 52,4 Prozent an die Regierung gekommen ist. Czaja verweist darauf, dass in denselben Umfragen eine große Mehrheit mit der Landesregierung unzufrieden ist. Das ist vielleicht nicht schlau von ihm, denn es heißt ja nichts anderes, als dass die Berliner jeder Alternative zu Rot-Rot-Grün noch weniger zutrauen.
Drei, vier Leute im Saal beklagen in Fragen, der Senat lasse sie nicht bauen, lehne Bauanträge ab, habe gar kein Interesse an privater Bautätigkeit. Was im Saal das Verzweiflungsgefühl verstärkt, weil doch der rot-rot-grüne Senat offiziell und laut Koalitionsvertrag an ganz vielen neuen Wohnungen interessiert sein müsste. Und dann die Sache mit der Enteignung großer Wohnungsunternehmen: ein Graus für jeden Marktliberalen, aber eine deutliche Mehrheit in Berlin hält sie für richtig.
Mehrheitlich verblendet
Was habe denn die FDP – unter deren Anhängern bei jener Umfrage übrigens auch jeder Dritte für Enteignung war – dem entgegenzusetzen? Wie schaffe man es, der aus Czaja- und IHK-Sicht mehrheitlich verblendeten Bevölkerung die Augen zu öffnen, oder, wie es jemand aus dem Publikum formuliert: „Wie kriegen wir die alle dazu, wieder klug zu werden?“
Es werde jetzt darum gehen, dem Alternativen und Lösungskonzepte entgegenzusetzen, ist Czajas Antwort. Was eigentlich die Frage aufwerfen müsste: Warum erst jetzt und nicht schon in der ersten Hälfte der Wahlperiode? Aber man ist nett zu Czaja, die Frage kommt nicht.
Czaja will modernisieren, digitalisieren, dabei aber auch keinen zurücklassen, straffen, den Nahverkehr zur wirklich verlockenden Umsteigealternative zum Auto ausbauen, will einen Pakt zwischen Wirtschaft und Landesregierung. Und der Flughafen Tegel bleibt aus seiner Sicht – Czaja war Mitinitiator des Volksentscheids dazu – natürlich offen. Was er aktuell mit der Unsicherheit begründet, ob der BER, dessen Ausbau noch teurer wird, wirklich im Oktober 2020 eröffnet. Zu rechtlichen Hürden sagt Czaja: „Im Zweifelsfall erklärt man Tegel zum Terminal vom BER.“ Offen lässt er zudem weiter eine Klage am Verfassungsgericht.
Seine Zuhörer wollen dann aber doch mal wissen, wie Czaja seine Sicht auf Berlin umsetzen will – allein geht das schlecht, bei der Wahl 2016 bekam seine FDP 6,7 Prozent, aktuell liegt sie kaum besser bei 7 Prozent. Mit der CDU will der FDP-Fraktionsvorsitzende reden, die aber erst mal ihre Führungsfrage klären soll, mit der SPD und mit den Grünen. Und: Ja, bei einer Jamaica-Koalition unter grüner Führung – solch ein Bündnis wäre nach aktuellen Umfragen möglich – würde er mitmachen, versichert Czaja, weil das besser sei als weiter Rot-Rot-Grün.
Von grünem Interesse an einem solchen Bündnis weiß er allerdings nicht zu berichten.
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