piwik no script img

Die Dinge so sehen,wie sie sind

Der Fotograf August Sander, Schöpfer des Großprojekts „Menschen des 20. Jahrhunderts“, wird in einem Band mit reichlich Bildmaterial aus der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus gewürdigt

Von Jochen Becker

August Sanders Monumentalwerk „Menschen des 20. Jahrhunderts“ ist ein Projekt der Weimarer Republik – aus den Schrecken und verpassten Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg hinein in eine umkämpfte Republik bis hin zum Nationalsozialismus und dem nächsten Weltkrieg. Das Werk häutet sich noch einmal neu nach dem Horror der NS-Zeit.

Das jüngst erschienene Buch „August Sander – Verfolger/Verfolgte“ liefert dazu Annotationen und Kommentare. Aus Sanders Lebenswerk werden Porträts von Nazis und Juden, Zwangsarbeitern und politischen Häftlingen hervorgehoben, die Biografien der Verfolgten rekonstruiert und um weiteres Bildmaterial ergänzt. Der von Sophie Nagiscarde, Marie-Edith Agostini und dem Enkel Gerhard Sander herausgegebene Ausstellungskatalog des Mémorial de la Shoah in Paris entstand in Kooperation mit der August-Sander-Stiftung und dem NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln.

In seinem „Kulturwerk in Lichtbildern“, wie der Titel des Monumentalwerks weiter lautete, porträtiert Sander zum Auftakt Bauern- und Bergarbeiterfamilien aus dem Westerwald sowie ländlich verwurzelte Handwerker in Festtags- oder Berufskleidung, in privater wie beruflicher Pose, wie sie sich in den Sitzungen und Stellproben herausgeschält hatte. Viele Familien suchten im Bergbau oder als Wanderarbeiter ein zusätzliches Auskommen. Sander selbst ist im nahen Siegerland in einer Bergarbeiterfamilie aufgewachsen. Nach Wanderjahren zog Sander 1910 nach Köln und reiste mit Bahn und Fahrrad in den Westerwald auf der Suche nach Kundschaft – und wurde dabei Kundschafter einer untergehenden Welt.

Auf die Dorfbewohner folgen Kleinstädter, Großstadtmenschen, Putzfrauen, Boheme-Künstler, Professoren, Industrielle, Kaufleute, Nazis, alle auf Augenhöhe fotografiert. 1937 erfasste Sander im Kölner Hauptbahnhof eine fröhliche Reisegruppe, um den sie anleitenden SS-Hauptsturmführer geschart. Warum nahm Sander diese Volksgenossen nicht in die Nazi-Mappe auf? „Die Hakenkreuzbinde bedeutet nichts mehr, wenn Millionen von Deutschen aus allen sozialen Schichten sie tragen“, schreibt Alain Sayag im Katalog. Nazi sein wird normal, für andere tödlich.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ergänzte August Sander sein Lebenswerk um die Fotografien von jüdischen Kölnern

Sohn Erich Sander starb 1944 kurz vor der Entlassung im Zuchthaus Siegburg. Er war nicht nur mehrfach Porträtierter und wichtigster Mitarbeiter seines Vaters, sondern auch im Widerstand aktiv. Von 1920 bis zur Festnahme 1934 radelte er durch Deutschland, nach Österreich sowie Italien, brachte über 1.000 Fotoaufnahmen mit und transportierte zuletzt auch illegale Dossiers. August Sander schätzte besonders die Landschaftsaufnahmen seines Sohns. Gemeinsam reproduzierten sie auf Fotopapier illegale Flugblätter, die Erich verfasst hatte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ergänzte August Sander sein Lebenswerk um die Fotografien von jüdischen Kölnern, von „Fremdarbeitern“ und politisch Verfolgten, die Erich aus dem Zuchthaus schmuggeln ließ. 1947 erwähnt der Vater erstmals eine „Judenmappe“, von „typischen alten Kölnern“. Die Publikation des Shoah-Museums in Paris trug nun weitere Kontaktabzüge zusammen und spürte in Kooperation mit dem Kölner NS-Dokumentationszentrum biografische Daten einzelner Porträtierter auf. Ihr Leben wird erzählt, ihr Leidensweg, Exil oder Ermordung verzeichnet. Genauso wird auch mit den politisch Verfolgten verfahren. Nur die „Fremdarbeiter“ bleiben weiterhin anonym.

Ab 1938 mussten deutsche Juden sich um ein Lichtbild für ihre „Judenkennkarten“ kümmern. Sander schuf keine Passfotos, sondern geduldige und würdevolle Porträtaufnahmen. Die „Verfolgten“ stecken in bürgerlichen Tarn-Uniformen, um Konformität auszustrahlen. Sie sind in Sanders Studio heimatlos eingetreten. Kein Lächeln blitzt über die Gesichter, da die Sitzung nicht freiwillig ist. Parallelen ergeben sich zu Erich Sanders Zuchthausaufnahmen von Zwangsarbeitern und politisch Verfolgten, die den Zwangscharakter der Bilder ebenfalls nicht leugnen können.

Die zur späteren „Erfassung“ gedachten Aufnahmen zeigen Personen, die schon bald in Kalkgruben oder Öfen ausgelöscht werden. Heute können diese geretteten Bilder, nach Deportation, Ermordung oder Tod im Exil, auch zur Re-Personalisierung dienen, indem man ihnen Namen und Geschichte verleiht.

Benjamin Katz zum Beispiel, Betreiber einer Metzgerei unweit der Familie Sander, ist einer der Fotografierten. Er musste schon 1933 zwischen SA-Horden ein Schild durch Köln tragen, auf dem zu lesen steht „Deutsche wir warnen euch hier zu kaufen! Die Käufer werden fotografiert.“ Zu vermuten ist, dass unter den Käufern sich auch die Familie Sander befand.

„Die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollen oder können“, schreibt August Sander 1927. Er verzeichnet nicht das deutsche Volk, sondern eine „Gesamtschau der gesellschaftlichen Ordnung“ der in Umbrüchen befindlichen Bevölkerung in Deutschland. Das work in progress wird sukzessiv ergänzt um die Mappen von Soldaten und Nazis sowie um (politisch und rassisch) Verfolgte sowie „Die letzten Menschen: Idioten, Kranke, Irre und die Materie“ oder die Todesmaske des Sohnes. Die Gesellschaft zeigt sich hier unversöhnt.

Sophie Nagiscarde, Marie-Edith Agostini, Gerhard Sander (Hg.): „August Sander – Verfolger/Verfolgte. Menschen des 20. Jahrhunderts“. Steidl Verlag, Göttingen 2018, 260 Seiten, 30 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen