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„Im 4. Akt hast du vergessen, dass in Gebärdensprache gespielt wird“

„Drei Schwestern“ von Anton Tschechow wird Anfang Februar am Deutschen Theater in einer ungewöhnlichen Inszenierung gezeigt. Ein Gespräch mit Regisseur Timofej Kuljabin vom Theater „Rote Fackel“ aus Nowosibirsk

Hier sprechen nicht nur die Hände: Pawel Poljakow, Irina Kriwonos, Daria JemeljanowaFoto: Foto: Viktor Dmitriev

Interview Ruth Wyneken

taz: Herr Kuljabin, Ihre Inszenierung der „Drei Schwestern“ von Anton Tschechow gastiert Anfang Februar am Deutschen Theater in Berlin. Warum dieses so viel gespielte Stück?

Timofej Kuljabin: Zuallererst war die Idee da, eine Arbeit in Gebärdensprache zu machen. Dann habe ich ein Stück gesucht, und zwar gerade eines, das schon hunderttausendmal gespielt wurde, in Russland und überall auf der Welt. Das habe ich bewusst so ausgewählt. Es scheint, als ob schon alles über dieses Stück gesagt, gezeigt, gespielt worden wäre, in allen möglichen Varianten. Dieser spezielle Kunstgriff, in Gebärdensprache zu spielen, ohne den gesprochenen Text, der gibt dem Stück eine große Frische, das gab es noch nie.

Verstärkt das Spiel in der Gebärdensprache der Gehörlosen die Verletzlichkeit der Figuren?

Ja, ohne Zweifel. Die Gebärdensprache ist sehr viel emotionaler. Bei tauben oder fast tauben Menschen ist die Psyche sicher empfindlicher. Sie sind viel emotionaler und offener und damit auch verletzlicher.

Ist es für die Zuschauer nicht eine Zumutung, Ihren Spielregeln zu folgen? Sie haben das gesprochene Wort in plastische „Sprache“ umgesetzt. Der Zuschauer folgt einem komplexen Geschehen, das in mehreren Räumen stattfindet. Und er muss dazu die Übertitel lesen.

Ich habe das bewusst so gemacht, es soll nicht einfach sein für den Zuschauer. Er soll eine Arbeit leisten, während er der Vorstellung folgt. Umso wertvoller wird sein Verständnis für das Geschehen. Er beginnt zu verstehen, wo sich welches Zimmer befindet. Am Anfang ist es tatsächlich schwierig zu unterscheiden, vielleicht verwirrend. Aber dann mache ich es etwas einfacher. Im 2. Akt wird es klarer, der Zuschauer kann sich ins Geschehen vertiefen, im 3. Akt wird es noch klarer – und im 4. Akt, da hast du schon vergessen, dass in Gebärdensprache gespielt wird. Du verstehst alles, es liegt auf der Hand. Und darin, in diesem Einlassen auf die Spielregeln, liegt etwas Wertvolles für den Betrachter. Er wird zum Mitglied einer Gruppe, die über ein bestimmtes gemeinsames Wissen verfügt, das vier Stunden vorher noch keiner von ihnen hatte. Das ist einer der Tricks dieser Inszenierung.

Trauen Sie dem gesprochenen Wort auf der Bühne nicht mehr?

Es gab einen Moment, da fand ich es schwer, mit Worten umzugehen, und ich suchte andere Mittel der Verständigung. Mir reicht es nicht mehr aus, wenn die Spieler abwechselnd ihre Rollen, ihre Repliken sprechen.

Pardon, das hört sich aber sehr vereinfacht an.

Es ist ironisch gemeint. Ja, ich suche ständig, ausgehend vom Stücktext, nach anderen Ausdrucksmitteln. Auch in meiner letzten Inszenierung in Zürich, „Nora“ von Ibsen, wird in dieser Logik gespielt. Die Figuren schrei­ben dauernd Kurznachrichten, sie chatten ihre Gefühle und Gedanken, die auf der Leinwand sichtbar werden. Du rezipierst diesen Stücktext dann auf eine ganz andere Art und Weise. Ich wollte erreichen, dass die Zuschauer sich nicht auf alte, gewohnte Sichtweisen mehr verlassen können. Es geht also weniger darum, dass ich dem gesprochenen Text nicht mehr traue, sondern eher um die Suche nach interessanten Mitteln der Kommunikation und der neuen Vermittlung von klassischen Texten. Der Zuschauer soll denken: Aha, dieses Stück kenne ich ja noch gar nicht, es ist ganz neu für mich.

Timofej Kuljabin

Timofej Kuljabin ist einer der prominentesten jungen Theaterregisseure in Russland. Seine Arbeit in Nowosibirsk und im Ausland hat großen Widerhall gefunden. In seiner Nowosibirsker „Tannhäuser“-Inszenierung stellte er Tannhäuser als Jesus Christus dar, was orthodoxe Kritiker skandalisierten. Daraufhin wurde der Intendant des Nowosibirsker Theaters, Boris Mesdritsch, im März 2015 entlassen.

„Drei Schwestern“ von Anton Tschechow gastiert Anfang Februar am Deutschen Theater in Berlin als Gastspiel des Theaters „Krasnyi Fackel“ („Rote Fackel“) aus Nowosibirsk. Die Schauspieler geben Tschechows Dialoge in Gebärdensprache, zugleich kann er in Übertiteln mitgelesen werden.

Foto: Yevgeny Kurskov/Itar-Tass/picture alliance

„Drei Schwestern“ wird manchmal mit einer Sinfonie verglichen. Welche Rolle spielt die Musik bei Ihnen?

Direkte Musik gibt es wenig in meiner Inszenierung. Aber es gibt eine Partitur der Laute und Geräusche, und zwar eine sehr dichte. Die Figuren erzeugen die ganze Zeit Alltagsgeräusche: Sie laufen, sie setzen sich, sie tun etwas, sie husten, sie niesen. Der Mensch erzeugt eine riesige Menge an Geräuschen, selbst wenn er schweigt. Und diese Lautpartitur hat eine große Bedeutung. Sie schafft eine besondere Atmosphäre, ein spezifisches musikalisches Gewebe, Rhythmus. Je nach Szene und Situation wird eine besondere Spannung erzeugt. Das ist sehr genau geprobt. Im dritten Akt, wo es ringsum brennt, wird besonders viel gehustet und geniest.

Tschechow hat in seinen Stücken besondere Geräusche vorgesehen.

Das stimmt. Für ihn hatte das Musikalische einen großen Stellenwert. Es gibt die Geige, auf der Andrej im ersten Akt herumkratzt. Und im Finale erklingt ein Militärmarsch, als die Truppe abzieht. Die Schwestern sagen: „Die Musik spielt so fröhlich, so munter, da möchte man wieder leben.“

Die Sprungfeder des Stücks ist die allmähliche Vertreibung der drei Schwestern aus ihrem Vaterhaus, letztlich die Vertreibung der alten Intelligenzija.

Ja, das ist richtig. Ihr Problem liegt darin, dass sie machtlos ist. Mir scheint, dass die Schwestern gegen gar nichts kämpfen. Darin liegt ja ihr Problem, dass sie sich nicht wehren und nicht kämpfen. Sie haben keinen Schimmer davon. Überhaupt ist das Stück recht seltsam gebaut, denn nichts hindert sie daran, sich Tickets zu kaufen und nach Moskau zu fahren.

Vertreten Natascha und ihr Liebhaber Protopopov einen neuen Typ Mensch, der möglichst viel Nutzen für sich aus dem Leben ziehen will?

Also, ich sehe darin keinen neuen Typ Mensch. Diese Natascha ist bloß sehr pragmatisch, eine, die auf einfache Dinge zielt. Bei Tschechow ist der Begriff „poschlost“ so wichtig [Abgeschmacktheit, Trivialität, Plattheit, d. Red.]. Diese Figuren siegen bei Tschechow stets, sie sind aufs Praktische ausgerichtet und nicht auf Reflexion. Sie sind sehr gesund, darauf erpicht, satt zu sein, gut gekleidet, sich gut einzurichten in der Welt. Ihr Wesen ist absolutes Spießbürgertum. Sie wirken letztlich zerstörend, denn sie nehmen ihre Umgebung in die Geiselhaft ihres Alltagslebens, alle müssen sich dem beugen. Wer darf sich schon dagegen auflehnen, wenn es um die Bedürfnisse des kleinen Bobik geht? Das wäre nicht fein, es wäre unethisch. Und Tschechow versteht die Kraft solcher Umstände sehr genau. Aber einen neuen Typ Mensch sehe ich darin wirklich nicht.

Die Figur der Schwägerin Natascha bringt mit den Kindern ein anderes Leben ins Haus.

Da spielt sich eine ganz alltägliche Geschichte ab, die Schwestern geraten in Abhängigkeit von ihrer Schwägerin. Die Kinder werden von Natascha als Erpressung gegen die Schwestern eingesetzt. Irina wird so aus ihrem Zimmer vertrieben, später Olga; die Kinder sind ein Instrument, um Druck auszuüben.

Mir scheint, Ihre Inszenierung entwirft ein Bild für ein Russland, das vor Umbrüchen steht. Das Alte, Gewohnte bricht weg, die Aufforderung, sich neu auszurichten, steht immanent im Raum: Das Mobiliar auf der Bühne ist alt, die Figuren benutzen aber neue Medien.

Als ich daran gearbeitet habe, hatte ich nicht speziell ganz Russland im Sinn. Ich denke, der Stücktext selbst ruft eine Menge Assoziationen und Gedanken hervor. Meine Aufgabe lag darin, den Text auf die richtige Art für die Zuschauer zu erschließen. Wenn das gelingt, arbeitet er für sich selbst, es ist ja ein großer künstlerischer Text. Er ist polyfonisch gebaut, eingebettet in eine Gesamtidee, und wenn man den richtigen Schlüssel findet, erschließt er sich von allein in allen seinen Schichten und Themen.

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