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„Schlachtfeld zweier Weltmächte“

Der venezolanische Soziologe Hector Briceño über die politische Lage vor den angekündigten Großdemonstrationen

Hector Briceño, 41, ist Soziologe am Zentrum für Entwicklungsstudien an der Universidad Central de Venezuela in Caracas

Interview Bernd Pickert

taz: Herr Briceño, der oppositionelle Parlamentspräsident Juan Guaidó hat zu nationalen Protesten aufgerufen. Wie beurteilen Sie die Lage?

Hector Briceño: Der Demonstrationsaufruf zeigt etwas sehr Interessantes: Die verschiedenen Teile der Opposition handeln nach einiger Zeit wieder gemeinsam. Die wirtschaftliche und soziale Krise verschärft sich ständig, und die Menschen erwarten Veränderungen. Was die Demonstration bewirken wird, werden wir sehen: Sie ist ein erstes Kräftemessen zwischen der Opposition und dem Unterdrückungsapparat.

Venezuela ist international isoliert. Schadet oder nutzt die von konservativen lateinamerikanischen Regierungen, den USA und der EU vorgetragene Kritik der Regierung Maduros?

Die wichtigste Folge dieser Isolation ist, dass die Regierung mehr denn je von der wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Unterstützung Russlands, Chinas, der Türkei und Kubas abhängt. Venezuela ist zum Schlachtfeld zweier Weltmächte geworden: die USA auf der einen Seite, China und Russland auf der anderen. Was in Venezuela passiert, ist auch das Ergebnis dieses Kampfes.

Trotz Krise halten wichtige Teile der Bevölkerung zur Regierung Maduros. Was steckt hinter dieser Haltung?

Zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung unterstützen den Chavismus, weil sie sich politisch und ideologisch diesem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ verbunden fühlen. Ein größerer Teil hat das Gefühl, dass ihm der Chavismus erstmals eine Stimme gegeben hat, und drückt seine Dankbarkeit durch bedingungslose Loyalität aus. Und dann gibt es jene, die von den Sozialleistungen der Regierung abhängen und Angst haben, dass die verloren gehen.

Hat die Opposition diese Teile der Bevölkerung eigentlich im Blick?

Ja, das hat sie. Juan Guaidó hat es sehr klar ausgedrückt: Wir müssen alle Bedürfnisse erkennen, die der Armen und sogar auch die der chavistischen Eliten. Aber es stimmt: Große Teile der Opposition haben von dem täglichen Leiden der Bevölkerung keine Ahnung. Sie argumentieren ausschließlich für demokratische Rechte und Freiheitsrechte und nehmen die unmittelbaren Bedürfnisse der Bevölkerung, vor allem in den Armenvierteln, nicht zur Kenntnis.

Am Montag gab es diesen kleinen Aufstand einiger Militärs. Wie sehen Sie die Rolle des Militärs insgesamt?

Die Armee hat eine zentrale Rolle. Wie bereit sind die Streitkräfte, die Bevölkerung zu unterdrücken? Auch die Haltung der Opposition hat sich ja geändert: Juan Guaidó hat mehrfach an das Militär appelliert, Nicolás Maduro nicht anzuerkennen. Und die Nationalversammlung hat ein Amnestiegesetz verabschiedet, das allen Militärs Vergebung zusichert, die sich jetzt dafür entscheiden, die Verfassung zu verteidigen.

Regierungsnahe Medien sehen das als Putsch­aufruf. Haben sie nicht recht?

Es wird keinen Putsch geben. Chávez war Militär und Putschist. Einmal an der Macht sorgte er als Erstes dafür, dass so einer wie er beim Militär nicht mehr zum Zuge kommt. Das Militär wird überwacht und kontrolliert. Wir sehen viele Militärs das Land verlassen – sie gehen lieber, als zu versuchen, innerhalb der Streitkräfte Allianzen aufzubauen.

Die Krise Venezuelas scheint so tiefgehend zu sein, dass Veränderungen unvermeidbar sind. Was wird passieren?

Das chavistische Wirtschaftsmodell hat die Bevölkerung in ungekanntes Elend gestürzt und muss sich ändern. Aber das geht nur mit einem Wechsel, denn Venezuela braucht finanzielle Hilfe, und niemand, nicht einmal Maduros Verbündete, wollen ihm noch Geld leihen, wenn er nicht auch die Unterstützung der Opposition hat. Es muss einen politischen Wechsel geben. Wie lange es dauert, weiß ich nicht.

Kann es zum Bürgerkrieg kommen?

Ich glaube nicht. Die Regierung verfügt über die Waffen, es gibt keinen Gegenpart. Wahrscheinlicher ist, dass noch mehr Leute weggehen – das nimmt sogar ein bisschen Druck, was die Versorgungssituation angeht.

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