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Ein Zeichen für die Opfer

Nach fünf Jahren und 438 Prozesstagen fiel im Juli im NSU-Prozess das Urteil: lebenslange Haft für Beate Zschäpe. Für die Nebenkläger aber brachte der Schuldspruch keine Erlösung

Von Konrad Litschko

Es war am 10. Juli 2018, als in rund 20 deutschen Städten plötzlich neue Straßenschilder auftauchten. Enver Şimşeks Name war dort nun zu lesen, oder der von Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Halit Yozgat, Mehmet Kubasik, Michèle Kiesewetter. Die Mordopfer des „Nationalsozialistischen Untergrunds“. Linke Aktivisten hatten in einer koordinierten Aktion die Schilder überklebt. Man wolle den Opfern Respekt erweisen, teilten sie mit. Und das Ausmaß rassistischer Gewalt sichtbar machen.

Tags darauf betritt der Sohn Enver Şimşeks, Abdulkerim, den Saal A101 des Münchner Oberlandesgerichts. Ganz hinten nimmt er Platz, neben seiner Anwältin, neben seiner Mutter Adile, neben den Eltern von Halit Yozgat, neben der Tochter von Mehmet Kubaşık. Von dort kann er direkt auf die Frau schauen, über die das Gericht gleich sein Urteil fällen wird: Beate Zschäpe. Die Mörderin seines Vaters Enver.

Genau dies sei Zschäpe gewesen, verkündet Richter Manfred Götzl Minuten später, eine Mörderin. Die 43-Jährige aus Thüringen, die dann in Sachsen untertauchte, sei – anders als von ihr behauptet – voll mitschuldig am Terror des „Nationalsozialistischen Untergrunds“. Jahrelang habe Zschäpe mit ihren Kumpanen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt das Land mit Terror überzogen. Zehn Morde, drei Anschläge, 15 Raubüberfälle. Zschäpe sei zwar nicht an den Tatorten gewesen, aber das Trio habe stets „gewollt zusammengewirkt“. Sie habe für die Tarnung gesorgt, die Finanzen organisiert, die Bekenner-DVDs verschickt. Götzls Schuldspruch: lebenslange Haft, mit besonderer Schwere der Schuld.

Damit geht dieser Prozess doch noch zu Ende, nach 438 Prozesstagen, nach fünf Jahren. Zschäpe nimmt das Urteil versteinert entgegen. In Abdulkerim Şimşek aber steigt Enttäuschung auf, dann Wut. Denn mitverurteilt werden vier Helfer des NSU – und das längst nicht so hart wie Zschäpe. Die Männer beschafften dem Trio Wohnungen, Papiere, die Mordwaffe. Zweieinhalb bis zehn Jahre Haft erhalten sie nun dafür. Noch im Saal wird einer – André Eminger, ein selbsternannter „Nationalsozialist mit Haut und Haaren“ – aus der U-Haft entlassen. Auf der Tribüne johlen und klatschen Rechtsextreme. Er habe von dem Urteil eine abschreckende Wirkung erhofft, sagt Şimşek. Aber nun jubeln die Neonazis.

Zschäpe nie geglaubt

Abdulkerims Vater, Enver Şimşek, ein Blumenhändler, wurde das erste Mordopfer des NSU, am 9. September 2000. Im Prozess wurde seine Erschießung aufgearbeitet, in allen Details. Böhnhardt und Mundlos kamen mitten am Tag, als Şimşek an seinem Blumenstand an einer Nürnberger Ausfallstraße stand. Neun Schüsse, sechs davon ins Gesicht. Dann machten die Neonazis noch ein Foto von ihrem Opfer. Şimşek überlebte vorerst, Abdulkerim sah ihn im Krankenhaus, mit blutverschmierten Löchern im Gesicht. Zwei Tage später starb Enver Şimşek. Erst nach elf Jahren, 2011, bekannte sich der NSU zu der Tat und den anderen Morden.

„Wie krank ist es, einen Menschen nur aufgrund seiner Herkunft mit neun Schüssen zu töten?“, rief Abdulkerim Şimşek in seinem Plädoyer als Nebenkläger in den Saal. Nur mühsam konnte er Tränen unterdrücken. „Was hat mein Vater Ihnen getan?“

Mehr als 600 Zeugen wurden im NSU-Prozess gehört, teils über Tage, im fensterlosen Saal A101, fast einem Bunker gleich. Polizisten erzählten von der Kaltblütigkeit der Mörder. Nachbarn von geselligen Umtrunken mit Zschäpe im Keller. Neonazis erzählten nichts, weil sie sich angeblich nicht mehr erinnerten. Ermittler wurden gefragt, warum sie jahrelang die Familien verdächtigten und nicht die rechte Szene. Verfassungsschützer, ob ihre rechten V-Leute nicht doch mehr über die Abgetauchten wussten.

All dies zog sich, am Ende quälend lang. Auch weil Zschäpe erst lange schwieg, dann mit ihren Anwälten eine Dauerfehde losbrach, und schließlich alle Schuld von sich wies: Der NSU-Terror sei alleiniges Werk der Uwes. Nur aus Abhängigkeit sei sie mit ihnen im Untergrund geblieben. Abdulkerim Şimşek und die anderen Opfer haben Zschäpe nie geglaubt. Und auch die Richter tun es am Ende nicht.

Nach dem Urteil legten alle Verurteilten Revision ein. Auch die Bundesanwaltschaft tat es, im Falle des Eminger-Urteils. Derzeit schreiben die Richter noch immer an der schriftlichen Urteilsbegründung, mehrere hundert Seiten werden erwartet. Erst danach wird der Bundesgerichtshof das Urteil prüfen. So penibel indes wie der Prozess geführt wurde, spricht nicht viel dafür, dass er noch einmal gänzlich neu aufgerollt wird.

Für Abdulkerim Şimşek und die anderen bleibt der Schmerz. Über den Verlust des Vaters, des Bruders, der Tochter. Und es bleiben die Fragen. Warum wurde gerade Enver Şimşek ausgewählt? Gibt es Helfer, die frei herumlaufen? Hätte der Staat, mit all seinen V-Leuten, nicht doch den Terror verhindern können?

„Ich kann nicht abschließen“, sagt Abdulkerim Şimşek. „Weil ich das Gefühl habe, dass nicht alles für die Aufklärung getan wurde.“

Zumindest für ein paar Stunden wurde die Erinnerung an seinen Vater und das Drängen, den NSU-Terror und die offenen Fragen nicht zu vergessen, im Juli auch nach draußen getragen, in den Alltag aller. Als der Name von Enver Şimşek und den anderen Opfern plötzlich auf den Straßenschildern standen.

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