Höher, weiter, näher

„Spiegel“-Reporter Claas Relotius hat im großen Stil gefälscht. Er ist auch Produkt eines journalistischen Zeitgeistes, der die Lust am Erzählen feiert und mit Märchenonkeln bislang gnädig umging

Das „Spiegel“-Verlagshaus an der Ericusspitze in Hamburg Foto: Ralf Brunner/laif

Von Anne Fromm
und René Martens

Hört mal auf mit eurer Kischologie“, soll der langjährige US-Kor­res­pon­dent der Zeit, Thomas Kleine-Brockhoff, vor 20 Jahren zu Kollegen gesagt haben. Kischologie bezieht sich auf den Egon-Erwin-Kisch-Preis, den wichtigsten Preis für schreibende Journalisten in Deutschland, der heute Nannen Preis heißt. Der Begriff sollte also all jene verspotten, die Texte vor allem dafür schreiben, Preise zu gewinnen: die Schönschreiber.

Ullrich Fichtner, künftiger Spiegel-Chefredakteur, erwähnt dieses Zitat am Mittwoch in einem Gespräch mit Journalisten. Er versucht damit zu erklären, was sich nur schwer erklären lässt: Wie konnte ein Reporter des Hauses, Claas Relotius, Edelfeder, Mehrfachpreisträger, herausragendes Jungtalent, den Spiegel und auch andere Medien über Jahre täuschen? Der Spiegel hatte den Betrug am Mittwoch öffentlich gemacht.

Relotius, der vor allem aus dem Ausland berichtete, hat in mindestens 15 seiner insgesamt knapp 60 Spiegel-Texte Passagen erfunden. Er hat Protagonisten erdacht, ihnen Biografien angedichtet, hat sich Szenen und Zitate ausgedacht. Nachdem ein Kollege ihm hinterherrecherchiert und seine Ressortleiterin ihn zur Rede gestellt hatte, gab Relotius den Betrug zu. Er hat mittlerweile gekündigt.

Es ist einer der größten Betrugsfälle im deutschsprachigen Journalismus. Die Spiegel-Redaktion ist geschockt, viele Kollegen in anderen Häusern sind es auch. Die AfD jubelt. Der Imageschaden des Magazins und der ganzen Branche dürfte enorm sein.

Wie konnte das passieren?

Um das zu erklären, muss man gar nicht nur im Spiegel graben. Man muss sich einmal anschauen, welche Kriterien heute für journalistische Brillanz gelten, was an Journalistenschulen gelehrt wird und welchen Stellenwert Journalistenpreise haben. Das Portal journalistenpreise.de listet rund 500 Preise auf, die aktuell vergeben werden. Die Zahl zeigt, dass sie eine Währung darstellen. Und die Redaktionen – auch die taz – bejubeln sich gern selbst.

Der Spiegel hat, wie andere große Blätter auch, Standards gesetzt, wie heute in journalistischen Texten erzählt wird. Porträts und Reportagen leben von einer möglichst großen Nähe. Vom Nacherzählen, Nachfühlen, von Emotionalität und Details. An Journalistenschulen lernt der Nachwuchs, dass Reportagen beim Leser „Kino im Kopf“ erzeugen sollen, dass ein guter Text „starke“ Protagonisten braucht und einen „Konflikt“, dass die „Dramaturgie“ des Textes wichtig ist. Man lernt, die Texte nicht Artikel zu nennen, sondern „Geschichten“. Journalistenschüler belegen Storytelling-Seminare, als schrieben sie für Netflix.

Das ist zum einen berechtigt, denn die Wirklichkeit ist komplex. Damit komplizierte Recherchen lesbar werden, müssen sie gut erzählt sein. Die Inszenierung von Reportagen ist aber auch Teil des Problems. Der Begriff Geschichte ist eben sehr nah an Märchen, es scheint verführerisch, hie und da ein bisschen auszuschmücken, ein Detail zu erwähnen, das die Stimmung unterstreicht, ein Zitat so zu biegen, dass es stärker wird. Relotius soll, so schreibt es Fichtner, gern bei der Musik dick aufgetragen haben: Ein einsames Kind singt ein trauriges Lied, Sträflinge singen im Waschraum Popsongs. Stimmte nur meist nicht.

Es gab in den letzten Jahren immer wieder kleinere und größere Unwägbarkeiten in Spiegel-Texten. Da war zum Beispiel René Pfister, der 2010 einen Text über Horst Seehofer schrieb. Der Text beginnt mit einer ausführlichen Beschreibung von Seehofers Modelleisenbahn. Pfister bekam dafür 2011 den Nannen Preis. Bei der Verleihung kam heraus, dass Pfister nie in Seehofers Keller gewesen war. Er habe lediglich Eindrücke Dritter zusammengeschrieben. Der Nannen Preis wurde ihm später aberkannt. Pfister leitet heute das Hauptstadtbüro des Spiegels.

Unfehlbarkeit und Intransparenz

Dazu kommt Intransparenz: Im März dieses Jahres veröffentlichte der Spiegel einen Text über eine Frau, die im Berliner Technoclub Berghain gestorben war, nachdem sie Drogen genommen hatte. Darin kam auch der Berliner Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke) mit Zitaten zu Wort, die nahelegten, für Lederer seien Tote ein etwas hässlicher, aber zu tolerierender Nebeneffekt einer bunten Partykultur.

Lederer reagierte empört. Er sah sich getäuscht, weil er, wie er damals auf Twitter schrieb, mit dem Reporter Alexander Osang nie über die Tote gesprochen habe. Stattdessen habe er mit dem Reporter allgemein über die Clubkultur der Stadt gesprochen.

Später meldete sich auch ein im Text zitierter Polizeibeamter auf dem Medienblog Übermedien und behauptete, mit Osang nur im Hintergrund gesprochen zu haben, aber dennoch ungefragt zitiert worden zu sein. Auf taz-Nachfrage wollte sich Osang damals nicht dazu äußern.

All diese Fälle sind nicht vergleichbar mit einem Reporter, der sich über Jahre Protagonisten und ganze Textpassagen ausgedacht hat. Der erfundenes Unwahres nicht nur im Spiegel, sondern unter anderem auch im Tagesspiegel, dem SZ-Magazin und im Magazin der Neuen Zürcher Zeitung untergebracht hat. Aber sie zeigen eine journalistische Kultur der Unfehlbarkeit und der Intransparenz. Die gute Geschichte, die richtige Zuspitzung oder die steile These scheint im Zweifel wichtiger zu sein als Fakten und journalistische Fairness.

Und das nicht nur beim Spiegel. Es sei hier nur kurz erinnert an Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung. Er schrieb 2012 ein Porträt über Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Prantl beschrieb detailliert, wie Voßkuhle in seiner Küche Gäste bekocht, wie dieser selbst das Dressing anrührt. Prantl schrieb, als sei er dabei gewesen. War er aber nicht.

Das Stilmittel der „szenischen Rekonstruktion“ dessen, was „hinter verschlossenen Türen passiert“, sei im „politischen Journalismus“ legitim, sagte der stellvertretende Spiegel-Chefredakteur Dirk Kurbjuweit am Mittwoch im Zusammenhang mit Relotius. Man müsse aber dieses Verfahren und die Quellen offenlegen.

Auch der Text, der den Fall Relotius rekonstruiert, bedient sich solch szenischer Rekonstruktionen. Er liest sich wie ein Krimi, ist geschrieben in dem Stil, mit dem Relotius groß geworden ist. Der Kollege, der ihn zu Fall gebracht habe, sei wochenlang „durch die Hölle“ gegangen, durch „tiefe Täler“. Relotius, so beginnt der Text, sei kurz vor dem Ende seiner Karriere „Glanz und Elend“ noch „einmal ganz nah“ gekommen. Relotius sei „ein journalistisches Idol seiner Generation“, und das lässt sich natürlich nicht leicht widerlegen, denn man kann die Generation ja nicht mal eben anrufen und nachfragen, ob das stimmt.

Der Text strotzt nur so vor Pathos. Am Ende bleibt hängen: Der Spiegel ist ein Hort der Wahrheit, Relotius ein Nestbeschmutzer. Selbstkritik äußert der Autor Ullrich Fichtner kaum.

Journalistenschüler belegen Storytelling-Seminare, als schrieben sie für Netflix

Dabei stünde sie dem Spiegel gut. Das Magazin hat über viele Jahre seine Kernkompetenz, die Recherche, vernachlässigt. So empfinden es zumindest die Rechercheure im Haus. 1999 startete der Verlag Spiegel Reporter, ein Magazin für Reportagen, Essays, Interviews, geschrieben und geführt von brillanten Autoren. Es war der Versuch des Spiegels, in der Liga der großen Geschichtenerzähler mitzuspielen. Er scheiterte, nach nur 18 Ausgaben wurde das Heft 2001 eingestellt, die Reporter vom Mutterhaus übernommen und das Ressort „Gesellschaft und Reportage“ gegründet. Personell gehört es heute zwar zu den kleineren, dafür haben viele Redakteure dort besondere Privilegien. Die Geschichtenerzähler beim Spiegel, intern werden sie „Märchenfraktion“ genannt, bekamen auch personell über die Jahre mehr Einfluss. Klaus Brinkbäumer, der im Sommer abgesetzte Chefredakteur, stand für das große Erzählen. Auch Ullrich Fichtner gehört zur Reporterfraktion. Das Schönschreiben wurde hausintern mehr prämiert als die Recherche, bemängeln einige im Haus. Dafür gab es Journalistenpreise – aber mit dem Fall Relotius jetzt vielleicht auch die Quittung.

Steffen Klusmann, künftiger Chefredakteur, erklärte am Mittwoch, dass noch unklar sei, ob der Betrug von Relotius personelle Konsequenzen haben wird. Ob also etwa die Ressortleiter, die Relotius eingestellt und gestützt haben, werden gehen müssen.

Der Fall Relotius weckt Erinnerungen an Tom Kummer, der im Jahr 2000 damit aufflog, Interviews mit Hollywoodpromis gefälscht zu haben. Er veröffentlichte die teils komplett erfundenen Gespräche im SZ-Magazin und im Magazin des Schweizer Tagesanzeigers. Die damaligen Chefredakteure des SZ-Magazins mussten gehen, es wurde einer der größten Fälschungsskandale im deutschsprachigen Journalismus.

Der Fall Relotius ist noch größer als der Fall Kummer. Kummer hat Promigespräche gefälscht, er hat betrogen in einer Welt, in der die Fassade sowieso oft heller leuchtet als die Wahrheit. In der Glamour oft mehr zählt als Tatsachen. Relotius hat Geschichten gefälscht, in denen es um Leben und Tod geht. Um Kriege, um politisches Zeitgeschehen, um das Elend von Kindern.

Die Frage ist nun, was aus dem Fall Relotius folgen wird. Der Spiegel setzt eine Kommission ein, die seine Texte durchleuchten und Strategien erarbeiten soll, die solche Fälle künftig verhindern können.

Aber was passiert mit der Branche? Führt der Fall Relotius, wie es jetzt einige vermuten, wirklich zu mehr Demut im Journalismus? Zu weniger großen Reporteregos, zu weniger Journalistenpreisen, zu weniger „Kischologie“?

Nach den Skandalen um Kummer, Voßkuhle und Seehofer änderte sich in der journalistischen Kultur wenig.

Offenlegung: Von August bis September 2008 war Claas Relotius Praktikant der taz in Hamburg. Aus dieser Zeit finden sich im Archiv unter seinem Namen zehn Texte. Dazu kommt eine Buchbesprechung von 2011. Die Beiträge werden geprüft.