piwik no script img

„Was ich auch sage, ist leer“

Die erste Generation von türkeistämmigen Menschen wird in Berlin alt. Wie ist es, wenn die Erinnerungen an ein bewegtes Leben schwinden? Ein Besuch in einer Berliner Demenz-WG

Von Elisabeth Kimmerle

Rukiye Mercan* sitzt am Fenster, so wie sie einst am Fenster ihrer Wohnung in Istanbul saß. Wann sie nach Deutschland gekommen ist, hat die 82-Jährige vergessen. Doch wie sie vor mehr als 40 Jahren im Istanbuler Viertel Beşiktaş auf den Bosporus blickte, daran erinnert sie sich. „Unser Leben in Beşiktaş war sehr schön“, sagt sie. „Aber als mein Mann gestorben ist, ging es meinen drei Söhnen und mir finanziell schlecht.“ Sie beschloss, mit ihren Kindern nach Deutschland zu ­gehen, um dort zu arbeiten. Mercan verkaufte das Haus in Istanbul und legte in Beşiktaş ein Grab für ihren Mann an. „Das schönste auf dem ganzen Friedhof“, sagt sie.

Vom Spielplatz draußen dringen Kinderstimmen in das Wohnzimmer des Hinterhofaltbaus im Wedding, durch die heruntergelassenen Jalousien fallen Sonnenstrahlen. Es ist einer der letzten warmen Herbsttage in Berlin. Im Fernsehen flimmert das Musikprogramm des türkischen Staatsfernsehens TRT.

Mercan ist eine von sechs Bewohnerinnen und Bewohnern der Demenz-WG des türkischen Pflegedienstes Dosteli. Alle, die hier leben, sind in den sechziger und siebziger Jahren aus der Türkei gekommen, um in Deutschland zu arbeiten.

Schafskäse und Menemen zum Frühstück

Kaum jemand von ihnen hatte vor, in Berlin zu bleiben. Der Plan war, allenfalls fünf Jahre Geld zu sparen, um sich in der Türkei ein Haus kaufen und ein gutes Leben aufbauen zu können. Doch die Jahre vergingen, und die Menschen richteten sich allmählich in Berlin ein. Und nun schwindet die Erinnerung an ihr Leben in Berlin und langsam auch die an die Türkei.

Die erste Generation von Migrantinnen und Migranten aus der Türkei wird in Deutschland alt, sie kehren nicht mehr zurück. Rund 21.900 tür­keistämmige Menschen über 65 leben dem Amt für Statistik zufolge derzeit in Berlin.

Das hat Safiye Ergün vor zehn Jahren auf die Idee gebracht, einen türkischen Pflegedienst aufzubauen. „Ich habe jahrelang als Altenpflegerin gearbeitet und gemerkt, dass es für türkische oder muslimische ältere Menschen ein zu ihrer Kultur passendes Angebot braucht. Denn unsere Eltern werden älter, und sie bleiben hier“, sagt sie.

In der türkischen Demenz-WG stehen zum Frühstück Schafskäse, Oliven und Menemen auf dem Tisch. Alle Mitarbeiterinnen sprechen türkisch und kennen die „kulturellen Feinheiten“, wie sie Ergün nennt. Für die Bewohnerinnen und Bewohner sei etwa der Fastenmonat Ramadan wichtig. Viele legten Wert darauf, einmal in der Woche im Koran zu lesen.

Zuerst verlieren sie ihr Kurzzeitgedächtnis

„Sie leben so, wie sie zu Hause, wie sie in ihrer Kindheit gelebt haben. Es gibt ihnen Freude und Sicherheit“, sagt Ergün. Die WG im Wedding – eine Art inneres Exil in den Kindheitstagen. Menschen mit Demenz verlieren zuerst das Kurzzeitgedächtnis. An die deutsche Sprache erinnern sich die meisten nicht mehr. „Wir haben Menschen, die nicht mehr wissen, in welchem Land sie leben, wie lange sie hier sind, wie ihre Kinder heißen“, sagt Ergün.

Sie erkennt an den Augen der dementen Menschen, wie desorientiert sie auf ungewohnte Umgebung reagieren. „Wir geben ihnen Ankerpunkte, an denen sie sich festhalten können. Allein die ihnen vertraute Sprache reicht schon, dass sie sich wohler fühlen. Wenn man mit ihnen türkisch redet, kommen die alten Erinnerungen wieder hoch.“

Rukiye Mercan beugt sich an ihrem Platz am Fenster über die Wachstischdecke und rührt in ihrem Tee, bis sich die Zuckerstücke auflösen. Ein Haarreif hält ihr weißes Haar aus der Stirn, um ihre Augen zeichnen sich feine Lachfalten ab. Wenn sie von ihren Kindern und Enkeln erzählt, bringt sie die Namen durcheinander, und dass die Berliner Mauer gefallen ist, hat sie vergessen. Doch wenn sie von ihren ersten Jahren in Berlin berichtet, wird sie lebhaft.

Mercan hat bei AEG im Wedding Motoren zusammengeschraubt. „Ich hatte schwarze Haare bis zur Kniekehle“, sagt sie. Eines Tages habe ihr Chef sie aufgefordert, die Haare abzuschneiden, weil sie sich in den Maschinen verfangen könnten. Mercan ließ sich ihre Haare kurz schneiden. „Ich habe so geweint um meine wunderschönen dicken Haare“, sagt sie und lacht.

Neben ihr öffnet eine Pflegerin die Balkontür und schiebt die 81-jährige Semiramis Nar* in ihrem Rollstuhl auf die Terrasse. In den siebziger Jahren war Nar Schauspielerin an einem Berliner Theater. Noch heute strahlt die alte Dame mit Baskenmütze, manikürten roten Fingernägeln und einem in Silber eingefassten großen Rubinring am Mittelfinger Eleganz aus. Sie steckt sich eine Zigarette an und raucht ruhelos. Kaum hat sie die Zigarette halb aufgeraucht, bittet sie die Pflegerin, sie wieder nach drinnen zu schieben.

Ein wiederkehrender Kreislauf

Sie will nicht zu spät zu ihrer Verabredung kommen. „Mein Sohn wartet“, sagt sie. Die Pflegerin nickt geduldig, tätschelt ihr die Hände und bleibt sitzen. Semiramis Nar drückt die Zigarette im Aschenbecher aus. Im nächsten Augenblick will sie ins Wohnzimmer gebracht werden, weil sie eine Verabredung mit einem Freund hat. Dort aber wartet niemand. Nach fünf Minuten möchte Nar wieder nach draußen, um zu rauchen. So geht das mehrmals an diesem Nachmittag.

Irgendwann wird Rukiye Mercan das ständige Hin und Her zu viel, sie beginnt zu schimpfen. Mercan vermisst ihren alten Wohnort Beşiktaş, sie war seit vielen Jahren nicht mehr dort. „In der Türkei ist nichts geblieben“, sagt sie und stimmt einen alten türkischen Klassiker an, dessen Namen sie vergessen hat. „So ist das Schicksal, was ich auch sage, ist leer …“ Sie wirkt dennoch glücklich in der Demenz-WG.

Hier vergehen die Tage mit Frühstück, Mittagessen, Abendessen, mit Singen, Tanzen, Besuch und dem Erzählen von alten Geschichten – ein immer wiederkehrender Kreislauf. An die alten Tage in Istanbul kann sich Mercan erinnern, nur die neuen Tage, die entfallen ihr wieder. Sie lebt in ihrer inneren Türkei. „Jetzt ist alles, was wir haben, hier.“

* Die Namen der Protagonistinnen wurden zu ihrem Schutz von der Redaktion geändert

Das neue Journal: Dieser Artikel ist im zweiten gazete-Journal erschienen. Sie können das Magazin unter diesem Link bestellen oder als E-Paper hier im E-Kiosk downloaden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen