Es geht längst um mehr als um die Spritpreise

Seit Wochen demonstrieren Franzosen gegen Macrons Steuerpolitik. Am Wochenende nun eskaliert in Paris die Gewalt – auch weil der Staatschef zu den Problemen schweigt

Samstagabend in Paris: In der Avenue Kleber, eine der teuersten Straßen der Stadt, wurden mehre Fahrzeuge zerstört und Läden beschädigt Foto: Charles Platiau/reuters

Aus Paris Rudolf Balmer

Hinter dem Triumphbogen steigt aus brennenden Barrikaden schwarzer Rauch in den grauen Pariser Himmel. Es riecht penetrant nach Tränengas. Regelmäßig ist der Knall von Polizeigranaten zu hören, die Demonstranten auf dem Etoile-Platz sind deshalb in ständiger Bewegung. Unter ihnen sind vor allem jüngere Personen, einige von ihnen tragen Atemschutzmasken. Aber auch Ältere und Pensionierte sind an diesem Samstag hier zusammengekommen, um Präsident Emmanuel Macron und seine Regierung in der Frage der Treibstoffpreise zum Einlenken zu zwingen. Ihr Erkennungszeichen: die gelbe Auto-Warnweste.

Seit zwei Wochen blockieren die gilets jaunes, die „Gelbwesten“, im ganzen Land Straßen, Tankstellen und Treibstoffdepots. Sie ärgert nicht nur, dass die Benzin- und vor allem die Dieselpreise nach einer ersten Erhöhung der Ökosteuer Anfang 2018 kräftig anstiegen sind. Bisher ist die Regierung nicht von ihren Plänen abgerückt, die Ökosteuer Anfang 2019 ein weiteres Mal anzuheben. Im Gegenteil. Während Tausende Franzosen im ganz Land frierend ihren Unmut auf die Straße tragen, schweigt ihr Präsident zu ihren Problemen. Und damit nicht genug. In der Zeitung lesen sie, dass sich Macron in seiner Sommerresidenz einen neuen Pool gönnt oder für Unsummen seinen Elysée-Palast renovieren lässt.

Bei den Gelbwesten hat sich Wut angestaut. An diesem Wochenende hat sie sich im Herzen der französischen Hauptstadt entladen. Mehrere Geschäfte an der luxuriösen Avenue Kleber wurden verwüstet und geplündert, zahlreiche Autos und Motorräder verbrannt. Holzplatten, die Schaufenster schützen sollten, dienten für Barrikaden und als Schilder gegen Polizeigranaten. Dabei geht es den Demonstranten längst nicht mehr allein um die Spritpreise. Mitten auf dem Etoile-Platz steht stoisch ein junges Paar mit Spruchtafeln. Sie fordern die Auflösung der Nationalversammlung sowie mehr Mitbestimmung der Bürger. Auf die Frage, ob sie den Sturz der Regierung wollten, antworten beide mit einem entschiedenen Ja. „Ich bin vielleicht etwas weniger radikal als Aurélien“, meint Charline. Beide sind in Paris in künstlerischen Berufen tätig.

Hier, auf den Champs-Elysées, hoffen die Demonstranten, können sie ihre Forderungen durchsetzen und Macron eine empfindliche Niederlage zufügen. „Dritter Akt: Macron kapituliert“ lautete der Facebook-Aufruf. Zehntausende haben ihn geteilt. „Die Gelben Westen werden triumphieren“ hat jemand auf den Triumphbogen geschmiert.

Ob sie Macron, der noch vom G20-Gipfel aus Argentinien jede Gewalt als inakzeptabel zurückgewiesen hat, wirklich zum Einlenken bringen können, darf bezweifelt werden. Klar ist nur: Der Protest der Unzufriedenen radikalisiert sich. Ein paar Hundert Demonstranten haben Schutzmasken und zum Teil auch Helme mitgebracht. Nicht alle, die hier mit Pflastersteinen auf Polizeiautos werfen, tragen die gelbe Warnweste. Wer sind sie? Provokateure, die letztlich mit ihrer Gewalt eine Kundgebung verhindern oder diskreditieren wollen? Erfahrene Aktivisten von linken oder ultrarechten Gruppe? Die Behörden reden von „Casseurs“, die ausschließlich zum Randalieren und Plündern kommen. In den ständigen Konfrontationen sind durchaus kleinere Gruppen zu beobachten, die sich in Seitenstraßen formieren, um zum Angriff überzugehen. Das zahlenmäßig starke Polizeiaufgebot scheint demgegenüber ziemlich ohnmächtig.

Mehr als 400 Personen nimmt die Polizei am Samstag fest. Mehr als hundert Personen wurden verletzt, davon zwanzig Polizisten. Der Sachschaden ist enorm. Am Sonntag erwog die Regierung, den Ausnahmezustand zu verhängen. Präsident Macron hat eine Krisensitzung einberufen. Zu den Ergebnissen wollte er sich anschließend nicht äußern. Klar ist nur, dass die Regierung ihre Reformen nicht zurücknehmen wird.

Auch in der Provinz, wo die Bewegung begann, kam es zu schweren Zusammenstößen mit zahlreichen Verletzten. In Puy-en-Velay, mitten in der ländlichen Auvergne, wurde das Gebäude der Präfektur in Brand gesteckt. Gewaltsame Auseinandersetzungen wurden unter anderem aus Tours, Dijon, Avignon, Toulouse und Marseille gemeldet. Den ganzen Tag über waren zudem mehrere Autobahnen oder deren Zufahrten von Gelbwesten gesperrt. Trotz dieser Behinderungen und der Gewalt unterstützen laut Umfragen mehr als 80 Prozent die Proteste. Droht Macron, der selber mithilfe einer Bewegung ins Amt gespült wurde, nun von einer neuen aus dem Amt gejagt zu werden?

Der Präsident sitzt in der Klemme, so viel ist klar. Für Pseudokonzessionen, um die Leute zu besänftigen, oder nachträgliche versöhnliche Phrasen dürfte es zu spät sein. Längst hat sich der Protest auf Schüler und Studenten, Bauernverbände und Gewerkschaften ausgeweitet. Die Forderungen der Bewegung gehen längst über das anfängliche Anliegen der ab 1. Januar erneut steigenden Treibstoffabgaben hinaus.

Auf die Frage, ob sie den Sturz der Regierung wollten, antworten beide mit einem entschiedenen Ja

So verlangen die Gelbwesten mittlerweile eine deutliche Erhöhung der Mindestlöhne und -renten, eine bessere Integration der Immigranten, eine Rückverstaatlichung der privatisierten Energiekonzerne, mehr Mittel für die Polizei und die Justiz, nicht mehr als 25 Schüler pro Klasse, aber auch ein Initiativ- und Referendumsrecht zur Schaffung einer direkten demokratischen Mitsprache des Volks. Das tönt wie ein politisches Programm und hat für das festgefahrene System in Frankreich die Sprengkraft einer politischen Revolution.

Mit einig wenig politischem Fingergespür hätte es nie zur heutigen Kraftprobe kommen müssen. Noch zu Beginn des Konflikts hätte Macron die Möglichkeit gehabt, die geplante Abgabenerhöhung auf Treibstoffe zu verschieben oder für die am stärksten betroffenen Kategorien finanziell zu kompensieren. Jetzt wollen die Gelbwesten mehr, und mit ihnen eine solidarische Bevölkerungsmehrheit. Vom Präsidenten aber fühlen sie sich wie undisziplinierte Kinder behandelt. Noch in Buenos Aires drohte Macron, die Schuldigen der Ausschreitungen würden identifiziert und bestraft. Von Selbstkritik keine Spur. „Macron dégage“ ist überall an den Barrikaden der Gelbwesten zu lesen. Macron muss weg.

Auch Jean-Paul Michel ist enttäuscht von der ganzen Regierung. Er verstehe nicht, sagt der Gärtner mit geröteten Augen auf den Champs-Elysées, warum die Regierung nicht auf die Bürger hört. „Als kommunaler Angestellter spüre ich seit zehn Jahren die Kaufkraftverminderung für die Beamten und öffentlichen Angestellten.“ Und wenn es mal eine Teuerungszulage gebe, so Michel, dann betrage sie lächerliche 0,1 Prozent.

Noch im Gehen sagt er: „Mein Sohn hat seine Stelle verloren und wohnt jetzt wieder bei uns. Schöne Perspektiven sind das!“, sagt der Mann zynisch.