: Raus aus der Klasse und wieder zurück in die Klasse
Trend oder Kehrtwende in der linken Politik? Eine Vielzahl von Publikationen beschäftigt sich aktuell mit der sozialen Frage
Von Christopher Wimmer
Die soziale Frage kehrt zurück auf die Tagesordnung des Feuilletons. Im realen Leben war sie selbstverständlich nie verschwunden. Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit oder Sozialhilfebezug ist für diejenigen, die sie erleben, bitterer Alltag. Innerhalb der Sozialwissenschaften wird dies aktuell verstärkt reflektiert. Im Blätterwald rauscht es von Neuer Klassenpolitik, und in der begleitenden Twitter-Kampagne #unten erzählen Menschen von Armut und Ausgrenzung.
Klasse und Klassenpolitik scheinen wieder en vouge zu sein. Jahrzehntelang wurde die Existenz von Klassen geleugnet – sowohl von der Wissenschaft als auch der politischen Linken. Der französische Soziologe Didier Eribon hat in seinem in Deutschland viel gelesenen Buch „Die Rückkehr nach Reims“ diese Sprachlosigkeit der Linken zu Fragen der sozialen Ungleichheit auf den Punkt gebracht.
Sebastian Friedrich und Redaktion analyse & kritik (Hg.): „Neue Klassenpolitik“. Bertz und Fischer, Berlin 2018, 220 Seiten, 14 Euro
Die Unfähigkeit, gegen den so genannten Rechtsruck und den neoliberalen Kapitalismus vorzugehen, führt auf der politischen Linken zu gegenseitigen Vorwürfen: Engagement gegen Sexismus oder Rassismus laufe Gefahr, im Partikularen zu verbleiben, sagen die einen. Klassenpolitik habe immer den Anschein von Haupt- und Nebenwiderspruch, so die anderen. Daraus erwächst der Scheingegensatz zwischen „Identitätspolitik“ und „Klassenpolitik“.
Dass die Linke hiermit auf dem Holzweg ist, haben die Autor*innen des lesenswerten Sammelbands „Neue Klassenpolitik“ verstanden. Die Sammlung von über 30 Beiträgen, die in den vergangenen Monaten in der Zeitung analyse & kritik erschienen, will diesen Gegensatz aufheben und „ein breites Spektrum der aktuellen Diskussionen um eine Neue Klassenpolitik“ abdecken.
Doch wie wird Klassenpolitik hier verstanden? Als Minimalkonsens könnte man sagen: Sie muss antirassistische, feministische usw. Kämpfe der vergangenen Jahrzehnte aufnehmen.
Ausgangspunkt, so Sebastian Friedrich, Herausgeber des Bandes, ist also auch die Erkenntnis, dass „die Trennung zwischen Klasse auf der einen Seite und Antirassismus und Feminismus auf der anderen Seite keinen Sinn ergibt.“ Die Beiträge versammeln auf prägnante Weise verschiedene Teilbereiche, in denen sich die Neue Klassenpolitik bewähren müsse.
Ebenfalls unter dem Titel „Neue Klassenpolitik“ hat Bernd Riexinger, Parteichef der Linken, unlängst sein Buch veröffentlicht und beweist damit, dass die Debatten auch im parteipolitischen Feld angekommen sind. Riexinger formuliert seinen „inklusiven Klassenbegriff“ so: „Es geht um die Neudefinition des Begriffs der Solidarität und die Verbindung verschiedener Gruppen und Interessen von Beschäftigten und Erwerbslosen zur Herausbildung eines politischen Blocks, der für fortschrittliche Politik im 21. Jahrhundert steht.“ Klassenpolitik müsse konkrete Projekte organisieren, die an Kämpfe und Erfahrungen der Menschen anschließen.
Veronika Bohrn Mena: „Die neue ArbeiterInnenklasse“.ÖGB Verlag, Wien 2018, 206 S., 19,90 Euro
Wie diese Erfahrungen konkret aussehen, zeigt Veronika Bohrn Mena anschaulich: Für ihr Buch „Die Neue ArbeiterInnenklasse“ hat sie zehn Personen interviewt, die unter prekären Bedingungen arbeiten. An ihnen wird deutlich, wie die prekären Jobs sich auch auf andere Lebensbereiche auswirken.
Wer sich all diese Publikationen um Neue Klassenpolitik näher ansieht, kann schnell ins Taumeln geraten angesichts der vielen Bereiche, die dort angesprochen werden. Die Geschlechterfrage und die Migration sollen ebenso eine Rolle spielen wie der Internationalismus, die Gewerkschaften und die Alltagspraxen. Oder die gesellschaftliche Marginalisierung ebenso wie die Frage der neuen Ausbeutungsformen durch die Digitalisierung. Frei nach Marx: „Fahrradkuriere, Pflegekräfte, Schichtarbeiterinnen, Crowdworker, Selbstständige und Journalistinnen, vereinigt euch!“
Bernd Riexinger: „Neue Klassenpolitik“. VSA Verlag, Hamburg 2018, 160 Seiten, 14,80 Euro
Dagegen ist nichts einzuwenden, aber ist das alles wirklich neu? Klasse war schon immer mehr als eine homogene Masse.
Lesenswert ist hierfür die Neuauflage von Hans-Günter Thiens Buch „Die verlorene Klasse“. Ebenfalls als Sammelband konzipiert, erschien es zuerst vor zehn Jahren. In den Texten scheint eine erstaunliche Verwandtschaft mit den aktuellen Debatten auf. Diskussionen über den Begriff der Klasse als analytische Kategorie oder über die Rolle des Begriffs für die politische Mobilisierung sind dort bereits geführt worden. Sie zeigen: Dass Klasse aus der ökonomischen Verengung herausgeholt werden und das ganze Leben in den Blick genommen werden muss, das wussten die fortschrittlichen Teile der Arbeiterbewegung schon immer.
Hans-Günter Thien: „Die verlorene Klasse. ArbeiterInnen in Deutschland“. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2018, 214 Seiten, 25 Euro
Das Neue an der neuen Klassenpolitik ist also nicht die Erkenntnis, verschiedene Kämpfe verbinden zu müssen, sondern die Erinnerung daran, dass dies schon mal gedacht wurde. Unter derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen ist das allerdings schon ziemlich viel.
„Klassenbewusstsein entsteht durch Erfahrung und deren bewusste Verarbeitung“, schreibt Bernd Riexinger zu Recht. Die Frage bleibt nur, wer all dies machen soll. Und welche Kämpfe sind eigentlich bereits Klassenkämpfe? Ist es die Besetzung von Wohnungen, ist es das kollektive Fahren ohne Ticket, um für günstigeren Nahverkehr zu demonstrieren, oder sind es nur die klassischen Lohn- und Gewerkschaftskämpfe? Sie alle können zu Klassenkämpfen werden. Es muss nur gelingen, eine Politik des Antagonismus zu formulieren. Die vorgestellten Bücher geben einen Hinweis darauf. Sie zu lesen ist ein erster Schritt, der die Praxis anleiten, aber nicht ersetzen kann.
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