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Kinder, die nie geboren wurden

Fast 300.000 indigene Frauen hat Perus rechte Regierung in den neunziger Jahren zwangsweise sterilisieren lassen. Jetzt hoffen sie auf einen Prozess gegen den damaligen Präsidenten Alberto Fujimori

Aus Santo Tomás und Lima Knut Henkel

Zögernd öffnet Inés Condori die Tür ihres Hauses im Stadtviertel Los Lirios. Es ist kalt in Santo Tomás, der Hauptstadt des Bezirks Chumbivilcas, im Hochland von Peru, ganz im Süden des Landes. Condori trägt einen bunten Strohhut, einen türkisfarbenen Kapuzenpullover und hat sich eine Decke um die Hüfte gebunden. Hinter ihr steht ein kleiner Verkaufstresen, rechts fast leere Regale. Sie stellt drei Plastikstühle in den großen Raum. Der diente lange als Nachbarschaftsladen, aber auch als Treffpunkt für die Frauen aus Los Lirios. Von denen teilen mehrere das Schicksal von Inés Condori. Trotzdem hat es lange gedauert, bis sie sich darüber ausgetauscht haben. Auf das Interview sei sie nicht vorbereitet, sagt sie. Und dann redet sie doch. Und erzählt von der Zeit, als Krieg herrschte in Peru.

1995 kämpften die beiden Guerillaorganisationen Leuchtender Pfad und MRTA (Movimiento Revolucionario Túpac Amaru) gegen die rechte Regierung des Präsidenten Alberto Fujimori. Zwischen den Fronten stand die indigene Bevölkerung. Menschen wie Inés Condori. „Wir hatten Angst. Es war nicht daran zu denken, unsere Rechte einzufordern“, sagt sie. Rechte, wie das auf medizinische Versorgung.

Trotzdem fuhr Inés Condori im April 1995 nach Cuzco, Perus Tourismusmetropole, nur 230 Kilometer, aber knapp sieben Fahrtstunden entfernt. Unterleibsschmerzen plagten Condori seit der Geburt ihres vierten Kindes, das sie sieben Monate zuvor zu Hause zur Welt gebracht hatte. In Chumbivilcas gab es weder Hospital noch Frauenarzt. Das nächste Krankenhaus war in Cuzco.

„Dort angekommen wurde ich in den zweiten Stock geschickt. Da gab es einen Saal, wo rund dreißig Frauen lagen, manche auf dem Boden, manche in Betten, und viele wimmerten vor sich hin. Andere schrien vor Schmerz“, erinnert sich die ­schmale Frau. 34 Jahre alt war sie damals und ohne lange zu fragen, weshalb sie gekommen sei, gab ihr eine Krankenschwester eine Spritze und kündigte eine Untersuchung an. Wenig später sackte Inés Condori betäubt in sich zusammen.

„Es gibt in Peru Rassismus, wir werden bis heute diskriminiert.“

Inés Condori, Indigene, Opfer von Zwangssterilisation

Ein paar Stunden später wachte sie wieder auf und als sie begriff, wo sie war, wurde sie schon barsch aufgefordert ihre Kleidung zu wechseln und nach Hause zu gehen. Diagnose, Folgeuntersuchung, Verhaltenstipps oder Schmerzmittel gab es nicht. „Es sei nur ein kleiner Eingriff gewesen, ich könne ruhig aufrecht gehen, herrschte mich die Krankenschwester barsch an“, erinnert sich Condori. Sie sei da zum allerersten Mal in einem Krankenhaus gewesen, sie sei überrumpelt worden, sagt sie und ihre Hände auf dem Schoss zittern.

Ohne informiert und gefragt zu werden, wurde Inés Condori 1995 im Rahmen eines von dem autoritär regierenden Fujimori aufgelegten Geburtenkontrollprogramms sterilisiert. Dass sie entmündigt, ihres Rechts auf Fortpflanzung beraubt worden ist, empört sie bis heute. Dabei hat es lange gedauert, bis sie sich eingestanden hat, was Ärzte und Krankenschwestern ihr angetan haben. Zwar habe sie geahnt, was mit ihr geschehen ist, weil sie geblutet habe. Aber die letzte Sicherheit habe erst ein Kongress im Jahr 2002 gebracht, wo Frauen berichteten, was ihnen passiert sei. „Da wurde mir klar, dass ich eine von Tausenden von zwangssterilisierten Frauen war“, sagt sie.

Das Gros der 272.028 Frauen, die laut einer Studie der Defensoria Nacional, einer Ombudsstelle für die Rechte der Bevölkerung, zwischen 1995 und 2000 in Peru sterilisiert worden waren, ist wie Condori indigener Herkunft. Viele sprachen kein Spanisch, sondern nur Quechua oder eine andere indigene Sprache. Einige wurden unter Druck gesetzt, sich sterilisieren zu lassen, andere erst gar nicht gefragt und manche auch brutal auf den OP-Tisch gebunden.

Ihre Berichte gesammelt hat die peruanische Frauenorganisation Demus. Und sie hat Frauen wie Condori, die heute 57 Jahre alt ist, ermutigt, darüber zu sprechen, was geschehen ist. Condori ist eine der ersten Frauen, die sich entschieden haben gegen den peruanischen Staat zu klagen.

Das war 2012, gut zwei Jahre später war die Zahl der dokumentierten Fälle bereits auf 2.074 Frauen gewachsen, heute sind mehr als 6.000 Frauen in dem Register der Opfer von Zwangssterilisierten eingetragen, sagt Susi Sotalero. Sie hält den Kontakt zu den Frauen aus der Region, arbeitet für die in Cuzco ansässige Menschenrechtsorganisation Derechos Humanos sin Fronteras, nimmt Aussagen auf und leitet sie weiter zu den Anwälten in Lima, die Klagen eingereicht haben.

Diese Klagen wurden mehrfach zu den Akten gelegt – zuletzt Ende 2017. Ende April 2018 aber wies der leitende Staatsanwalt Luis Lanta die ermittelnde Staatsanwältin Marcelita Gutiérrez an, auch den von 1990 bis 2000 regierenden Ex-Präsidenten Alberto Fujimori und die Verantwortlichen im Gesundheitsministerium in die Anklage aufzunehmen. Seitdem herrscht wieder Hoffnung bei Frauen wie Inés Condori.

Für Condori ist die Geburtenkontrollpolitik Fujimoris, die von der staatlichen amerikanischen Entwicklungsagentur US-Aid und der Weltbank im Kontext der Armutsbekämpfung mitfinanziert wurde, ein Spiegelbild des Umgangs mit der indigenen Bevölkerungsmehrheit: „Wir werden bis heute diskriminiert. Es gibt in Peru Rassismus und es ist kein Zufall, dass es kaum Frauen in den großen Städten gibt, die gegen ihren Willen sterilisiert wurden“, sagt Condori. Bestimmt, mit leiser Stimme spricht sie, manchmal sucht sie nach den richtigen spanischen Wörtern, ab und zu drückt sie ihre Hände auf der Decke, sodass die Fingerspitzen dunkel werden. Man sieht, wie schwer ihr die Erinnerung manchmal fällt.

Condori ist die Sprecherin der Vereinigung der Opfer von Zwangssterilisationen von Chumbivilcas. 330 Frauen haben sich darin zusammengeschlossen, und die Zahl wächst. „In den letzten Monaten haben sich mehrere Dutzend Frauen aus anderen Distrikten gemeldet“, sagt Condori. Als Vorsitzende organisiert sie die Treffen in der Liga Agraria, einer Bauernvereinigung in Santo Tomás. Sie fährt nach Lima, um an Treffen auf nationaler Ebene, etwa bei Demus teilzunehmen. Dort laufen die Stränge zusammen – und dort ging auch die Einladung der Europaparlamentarier ein, die sich über die Zwangssterilisationen in Peru informieren wollten.

Anfang März, am internationalen Frauentag, flog Condori nach Brüssel und erzählte dort ihre Geschichte. Durch derartige Auftritte, aber auch durch das Engagement von Amnesty International sowie durch die steigende Zahl von Frauen in Peru, die erzählen, was ihnen passiert ist, wächst der Druck auf das Justizsystem aktiv zu werden. Für Condori ist das ein Hoffnungsschimmer.

„Wir wollen eine umfassende Wiedergutmachung und dazu gehört auch eine offizielle Entschuldigung der Verantwortlichen – vom Staat und von Fujimori“, sagt sie mit fester Stimme. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, denn die Staatsanwältin Marcelita Gutiérrez wird der Fuerza Popular, der Partei von Fujimori-Tochter Keiko, zugerechnet und hat anscheinend wenig Interesse, den Prozess zu eröffnen.

Ein Grund, weshalb die Opferorganisationen Ende Mai in Lima die Absetzung der Staatsanwältin forderten. Ohne Erfolg. Keine Überraschung für Condori, die, anders als viele andere Opfer, von ihrem Mann und ihren vier Kindern unterstützt wird. „Bisher sind wir der Gerechtigkeit in Peru nicht begegnet. Vielleicht ist ein übergeordnetes Gericht unsere letzte Chance“, sagt sie. Ihr Anwalt hat ihr dies als letzten möglichen juristischen Weg skizziert. Also wird sie weitermachen. „Wir wollen unsere Würde zurück und dafür müssen wir weiter kämpfen“, sagt sie.

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