Ist das Baukunst oder kann das weg?

Vom Bahnhof bis zur Großwohnsiedlung: Das Erbe der architektonischen Spätmoderne ist umstritten. Das Landesmuseum Braunschweig versucht, ihm in der Region mit der Ausstellung „Brutal modern“ Gerechtigkeit widerfahren zu lassen

Möglicher­weise ein konsensfähiges Beispiel der Nachkriegsmoderne: Alvar Aaltos Stephanus­kirche in Wolfsburg Foto: Heinrich Heidersberger

Von Bettina Maria Brosowsky

Über Architektur, die öffentlichste aller Künste – so man diese angewandte Disziplin dazu zählen möchte –, meint jeder, mitreden zu dürfen. Schließlich kommt man tagtäglich mit ihr in Berührung, fühlt sich als Profi. Und wenn es um sogenannte abrisswürdige Bausünden geht, wird das Todesurteil schnell und fast ausschließlich über Bauten der Nachkriegsmoderne gefällt, selten über Älteres. Es scheint, dass etwas schiefläuft mit der Akzeptanz dieser Epoche.

Andererseits erhebt auch kaum jemand eine qualifizierte, erklärende Stimme zu ihrer Ehrenrettung. Große deutschsprachige Tageszeitungen berichten gern über Kunst, Theater, Konzert oder Literatur, bringen Beilagen zu Documenta, Buchmesse. Aber lediglich eine Handvoll unter ihnen – etwa die Süddeutsche, die Frankfurter Allgemeine und die Neue Zürcher Zeitung – pflegt eine kontinuierliche und fundierte Kritik von Architektur, Städtebau, Grün und Wohnen.

Jedoch wird auch hier lieber Aktuellem wie dem Louvre Abu Dhabi oder Hochhausskylines in Mumbai gefrönt. Selten, dass ein Beitrag sich dem widersprüchlichen Nachlass der Spätmoderne widmet, der in deutschen Landen immerhin mindestens die Hälfte des gesamten Baubestands ausmacht.

Die Lücke schließen

Deshalb ist es mehr als löblich, dass sich das Landesmuseum Braunschweig derzeit anschickt, mit einer umfangreichen Ausstellung diese Lücke für die Region zu schließen. Inhaltlich federführend zeichnet ein Team aus dem akademischen Mittelbau der TU Braunschweig, dem niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege und regionalen Initiativen zur Baukultur. Dingfest gemacht, und das mag ein Manko sein, wird die Querschnittsschau an 19 Einzelbauten oder städtebaulichen Ensembles, von denen lediglich drei dem Wohnen dienen.

Der Schwerpunkt liegt also auf öffentlichem Bauen, Handel und Kommerz sowie diversen Bildungseinrichtungen, gegliedert in drei nicht unbedingt trennscharfe Zeitphasen vom „Kaltem Krieg“ über „Reform und Aufbruch“ bis „Pluralisierung“. Die exemplarischen Bauten dienen als Zeitzeugen, technische Dokumente; Zeitungsberichte und Filme vertiefen ihre Geschichte, Interieurs sowie typische Konsumprodukte reanimieren den Zeitgeist.

Es scheint, dass etwas schief läuft mit der Akzeptanz dieser Epoche

Verdrängte Kontinuität

Den Reigen eröffnet der Braunschweiger Hauptbahnhof, 1960 fertiggestellt, seit Ende 1992 in wesentlichen Bereichen unter Denkmalschutz gestellt. Das ist in vielerlei Hinsicht geschickt gewählt. Zum einen, da dieser Bau ein exponiertes Beispiel für die so gern verdrängte Kontinuität zwischen NS-Planungen und Nachkriegsmoderne darstellt. Bereits 1939 lag ein Entwurf für einen leistungsfähigen neuen Durchgangsbahnhof vor, der den bisherigen Kopfbahnhof in städtebaulich beengter Lage ersetzen sollte. Architekt Friedrich Wilhelm Kraemer, der nach 1945 als Hochschullehrer und in seinen, auch internationalen, Aufträgen einen eleganten, wenngleich etwas blutleeren Funktionalismus vertrat, bettete den neuen Bahnhof in das ideologisch konforme Monumentalprogramm von NS-Repräsentationsbauten. Die Bundesbahndirektion schrieb das Vorhaben ab 1956 fort und errichtete die Bahnhofsanlage in Eigenregie. Ihre großstädtische Architektur mit vollverglaster Eingangshalle, weit ausladendem Vordach und markanter, 30 Meter hoher Verwaltungsbauscheibe orientierte sich an einer verhaltenen Nachkriegsmoderne italienischer Referenzbauten.

Komposition von Stadtraum

Der Braunschweiger Bahnhof zeigt zum anderen aber auch, wie stark die Akzeptanz – oder in diesem Fall die Ablehnung – moderner Architektur von der Komposition eines modernen Stadtraums abhängt, von der Integration des einzelnen Bauwerks in eine harmonisch empfundene Stadtlandschaft. Die gut eineinhalb Kilometer lange Durststrecke zwischen Bahnhof und Innenstadt ist bis heute nicht bewältigt, sie blieb eine, zudem überdimensionierte Verkehrsachse aus der Planungseuphorie einer „autogerechten Stadt“ der 1950er Jahre. Statt aber diesen Missstand als Ausgangspunkt konstruktiver Kritik zu erkennen, wird lieber der Bahnhofsbau als abrisswürdige „architektonische Scheußlichkeit“ in gesamtschuldnerische Haftung genommen, so etwa im Januar 2015 in einem populistischen Artikel im Spiegel.

Polarisierende Bauten

Ein weiteres ebenso polarisierendes Bauphänomen dieser Jahrzehnte, die Großwohnsiedlungen, gibt es in der Region Braunschweig-Salzgitter-Wolfsburg durchaus – aber nicht in den sozialen Eskalationsstufen echter Großstädte. Für Braunschweig ist der Stadtteil „Schwarzer Berg“ in direkter Nähe zum örtlichen VW-Werk ausgewählt: 1.800 ab 1965 bezogene Wohnungen für derzeit gut 4.700 Einwohner. Im Charakter zwar etwas öde, funktioniert dank geschickter Durchmischung dort alles ganz leidlich. Miet- und Eigentumswohnungen im Geschossbau, Einfamilienhäuser, ein Studenten- und ein Altenwohnheim sowie Apartments im 22-Geschosser – und bis heute akzeptable Infrastruktur, vor allen aber wegen der Naturnähe und viel, teils spontan aufgeschossenem Grün.

Öde: die Siedlung Schwarzer Berg in Braunschweig Foto: A. Bormann

Anders sieht es in Wolfsburg-Westhagen aus, einem Stadtteil der 1970er Jahre in ausgeprägter Hochhausstruktur für etwa 10.000 Einwohner. Hier wird derzeit kräftig abgerissen. Aber Wolfsburg pflegte auch immer schon das Experiment in der Architektur, in Westhagen etwa in Form einer skulpturalen Hausanlage des Hannoveraner Architektenpaares Spengelin. Offene Laubengänge, zweigeschossige Maisonnettes und gut benutzbare, große Balkonterrassen können sich auch heute noch sehen lassen.

Populismusfalle

Dass immer wieder der Mythos „Braunschweiger Schule“ um Friedrich Wilhelm Kraemer und Co. als Garant ewigzeitlich baukultureller Qualität aus der Versenkung geholt wird, ist ebenso verzichtbar wie die Aufforderung am Ende des Rundgangs, mit Klebezetteln über Erhalt oder Abriss der vorgestellten Bauten abzustimmen. Baukunst oder weg: Spätestens hier tappt das ambitionierte Unterfangen dann doch wieder in die Populismusfalle.

„Brutal Modern. Bauen und Leben in der 60ern und 70ern“: bis 31. März 2019, Landesmuseum Braunschweig