piwik no script img

Anderen meine Stimme leihen

Samaa Hijazi: „Jeder von uns ist bunter geworden“ Foto: Dagmar Morath

An der Ostsee, im Nordosten Deutschlands, stand ich und sah, wie die Wellen meine Füße umspülten. Ich spürte die Kälte des Wassers in meinem Herzen, und es war, als hätten sie es erneut zum Leben erweckt. So wurde mein Gedächtnis aktiv.

Ich bin nicht auf einem Schlauchboot gewesen und meine Beine wurden nicht von einer Welle oder vom Wind auf dem Meer gepeitscht. Ich bin kein Flüchtling, sondern ein Mensch wie alle Flüchtlinge, deshalb möchte ich allen Flüchtlingen meine Stimme leihen, damit sie gehört werden.

In dem Museum für Islamische Kunst in Berlin stand ich vor einem Gemälde, auf dem ein brennendes Schiff zu sehen war. Flammen stiegen empor: Ich hatte das Gefühl, dass meine Wimpern mitbrennen. Wie Herbstblätter von den Bäumen fallen, die sich endgültig von den Zweigen verabschieden und ihr Ende auf dem Boden finden, springen Passagiere vom Schiff in die Wellen. Die Passagiere waren Europäer und zu der Zeit waren sie Flüchtlinge. Aber heute bieten sie anderen Flüchtlingen Obdach. Wie oft wiederholt sich Geschichte?

Wir glauben alle, dass die Erde eine Kugel ist und sich um die eigene Achse dreht. Hätten wir die Möglichkeit, ihre Rotation zu betrachten, wären wir dann bewusster und menschlicher?

Also, wir sind, abgesehen von unseren Unterschieden und Differenzen, an denselbem Ort angekommen und jeder von uns hat sicherlich ein anderes Ziel. Uns verbindet die Hoffnung. Die Sonne muss auch hier unbedingt aufgehen, obgleich wir ihr den Rücken zugewandt haben, wo sie untergehen kann. Ein niedergelassener Flüchtling oder ein Flüchtling auf der Durchreise. Diese Erde ist eine fruchtbare Erde für unsere Träume, die hier wachsen und gedeihen werden. Alles wird mit viel Vergessenem und Schmerzlinderung zu verbinden sein. Die Sehnsucht in der Nacht nach dem geliebten Syrien quält uns weiterhin und im Schlaf, wenn wir überhaupt Schlaf finden, wird der Traum noch schwerer.

Die Merkmale Syriens werden klarer und die Nuancen zeigen die tiefen Wurzeln des Landes. Hier in Berlin ist alles bunt. Viele Menschen aus verschiedenen Kulturen kommen hierher und lassen sich nieder. In einigen Straßen Berlins finden wir oft Farben, die uns an die Zöpfe von Damaskus erinnern. In einer anderen Straße atmen wir die Luft ein und denken dabei an Damaskus.

Wir sehen Damaskus als Leiche und in Trümmern, aber alles zusammen wird in unserem Gedächtnis getragen. Damaskus zu erreichen und mit dieser Stadt eins zu sein, ist unser Ziel. Wir zählen die Tage und Stunden.

Auf jeden Fall sind wir erst einmal hier. Und wir erfahren etwas Liebe hier. Deutschland, dieses starke Land, ist eine Stütze für uns geworden und der Anlegehafen für unsere gebrochenen Seelen. Hier werden wir womöglich wachsen und gedeihen und dankbar sein. Deutschland werden wir nicht vergessen. Wir werden ihm das Gute zurückgeben. Deutschland bot uns Obdach, und wenn es ruft, ist es für uns wie der Ruf der Geliebten. Dieser Ruf wird nicht zurückgewiesen. Das Gute kann nur mit Gutem erwidert werden.

Jeder von uns, ob er will oder nicht, ist bunter geworden als er vorher war. Bunter in seiner Gegenwart, bunter hier und bunter in den Einzelheiten seiner Vergangenheit, nämlich dort. Samaa Hijazi

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen