piwik no script img

Einheimisch und fremd

Aktuell bilden rund 34.000 Normen das Deutsche Normenwerk. Ob Bleistift oder Kaffeelöffel, Treppe oder Schraube, Leiter oder Zahnbürste – fast nichts in unserem Alltag ist nicht von Normen erfasst. Im Baugewerbe gilt die DIN als heilige Schrift und als das Maß aller Dinge.

Text: Wim Eckert

Das Deutsche Institut für Normung erarbeitet unter Leitung eines Arbeitsausschusses von hauptsächlich technisch versierten Ingenieuren einen freiwilligen Standard, in dem materielle und immaterielle Gegenstände vereinheitlicht werden. Dieses freiwillige Standardwerk entsteht in der Regel auf Anregung interessierter Kreise, hauptsächlich durch die Initiative der privaten Wirtschaft, mit dem Ziel, Anforderungen an Produkte, Dienstleistungen oder Verfahren festzulegen. Es schafft Klarheit über Eigenschaften und unterstützt primär die Rationalisierung und Qualitätssicherung in Wirtschaft, Technik, Wissenschaft und Verwaltung.

Aktuell bilden rund 34.000 Normen das Deutsche Normenwerk. Ob Bleistift oder Kaffeelöffel, Treppe oder Schraube, Leiter oder Zahnbürste – fast nichts in unserem Alltag ist nicht von Normen erfasst. Im Baugewerbe gilt die DIN als heilige Schrift und als das Maß aller Dinge. Kaum ein Bauteil ist nicht normiert und typisiert. Sich jenseits dieser Norm zu bewegen, gleicht einem schwerwiegenden Vergehen, das während der Planung sofort geahndet und zur unverzüglichen Forderung nach Anpassung an die entsprechende Norm führt. Verlässt man den Weg der Tugend und überlegt sich, die eine oder andere Norm zu vernachlässigen oder sie aus gutem Grund sogar zu ignorieren, droht einem sofort die sogenannte Sonderzulassung eines nicht DIN zertifizierten Bauteiles. Die Sonderzulassung ist das Schreckgespenst der Bauindustrie und geht einher mit unberechenbarem Aufwand, Zeit und Kosten.

Ein nicht DIN konformes Bauteil muss zuerst als Prototyp erstellt, dann auf Alltagstauglichkeit geprüft und von einem einschlägigen Expertengremium abgenommen werden, dann nochmals produziert werden, um es dann letztlich seiner Bestimmung zuzuführen, es einbauen und in Betrieb nehmen zu können. Dass wir während der Planung des taz Neubaus immer wieder mit dem Gedanken an eine Sonderzulassung gespielt haben, wurde von allen am Bau Beteiligten mit einem fast ungläubigen Erstaunen wahrgenommen und unser Ausländerstatus als Schweizer belächelt. Wir haben uns dann umfassend über Sonderzulassungen informiert und verzichteten letztlich aus Respekt vor der unglaublichen Bürokratie auf diesen langen, riskanten und steinigen Weg.

Das neue Haus der taz wurde also nach den Regeln der Deutschen Industrienorm geplant und erstellt. Dennoch haben wir uns die Freiheit genommen, einzelne DIN geprüfte Bauteile anders einzusetzen als in ihrer ordinären Zweckbestimmung. Es sind somit Bauteile zum Einsatz gekommen, die zwar allesamt typengeprüft und normiert sind, in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft und in ihrer Kombination mit anderen normierten Bauteilen so aber noch nie verbaut wurden. Ähnlich einem gerade in Berlin angekommenem Küchenchef, der sich vom lokalen Markt die entsprechenden Produkte holt und diese auf unkonventionelle Art und Weise kombiniert, entstand ein neues Gericht, das trotz lokaler Provenienz einheimisch und fremd zugleich ist.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen