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zwischen den rillenWorking Class aus Montreal

Nehmen wir eine Welt, in der die Superstars illustre Namen wie Charlotte Flair, Sasha Banks und Ronda Rousey tragen. Nehmen wir an, diese Welt war bis vor Kurzem von Männern dominiert; doch während diese nun auf der Stelle treten, werden die Namen der Künstlerinnen von Abertausenden skandiert. Lustigerweise existiert diese Welt bereits, und zwar im Wrestling. Hier laufen die vorgenannten und etliche weitere Ringerinnen ihren männlichen Kollegen den Rang ab. Demnächst wird gar ein achtstündiges Pay-per-View abgehalten, nur mit Akteurinnen. Der heilige Gral der Wrestling-Welt.

Während bei den „Catchern“ die Frauen aufgeholt haben, gibt es andere Bereiche, die in der Gleichstellung meilenweit hinterherhinken. Einer davon ist die elektronische Musik, was auch ein wenig traurig wirkt, ist diese doch gleichbedeutend mit Fortschritt und Zukunftsvision.

Zudem ist es eine Musikrichtung, die weit weg von Machismen aller Art sein müsste, nähme man ihre Gründungsmythen ernst. Neben etwai­gen Einzelfällen bleibt es ein immer noch oft verbreitetes Gerücht, dass weibliche DJs und Künstlerinnen über Gebühr gepusht würden. Wer sich schon mal auf Raves mit den Falschen unterhalten hat, wird das bestätigen können. Wer sich hingegen mit den Richtigen unterhält, wird feststellen, dass Künstlerinnen tatsächlich „gehypt“ werden. Aus gutem Grund, denn die Riege der interessantesten DJs und Produzent*innen wird nämlich immer mehr von Frauen bestimmt. Stellvertretend seien hier Lena Willikens und Jennifer Cardini genannt. Ab sofort muss man auch die Kanadierin Marie Davidson dazu zählen.

Davidson, die aus Montreal kommt, ist in den letzten Jahren vermehrt durch grandiose Live-Shows und außerordentliche Produktionen aufgefallen. Sei es mit dem Ambient-Projekt Les Momies de Palerme und dem Cold-Wave-Duo Essaie Pas, das sie mit ihrem Mann Pierre Guerineau bildet, oder eben auch solo: Mit ihrer Musik beweist Davidson sowohl ihre eigene künstlerische Weiterentwicklung als auch die grundlegende Qualität ihrer Kompositionen. Der Durchbruch gelang ihr mit dem Album „Adieux Au Dancefloor“, 2016 veröffentlicht. Nun folgt mit „Working Class Woman“ ein mehr als würdiger Nachfolger.

Der Abwechlungsreichtum ihres Sounds ist mitreißend. Davidson gibt selbst an, dass dies die Spiegelung ihres Alltags in den letzten Jahren darstellt. Die „Working Class Woman“ ist sie selbst – und das gleich auf verschiedenen Ebenen, die alle ihre musikalische Entsprechung auf dem Album finden: Sie verhandelt die oft nervige Atmosphäre von Partys, geprägt von öder Oberflächlichkeit. Wo man zugetextet wird, während anderswo die Tanzfläche kocht („Your Biggest Fan“).

Sie spielt mit der brutalen Simplizität und den hart verzerrten Sounds im Underground-Techno der letzten Jahre, der straight pumpt, während er gleichzeitig Punk mitliefert. Sie berichtet von depressiv-manischen, gar psychotischen Episoden im Hotelzimmer, wenn man nach Stunden Massenbespaßung mit sich alleine klarkommen muss. Sie thematisiert die Arbeitswut, die Künstlerinnen beschleicht, wenn man „Workaholic“ (Davidson) ist: Und das drückt sich entweder in Rohheit oder in Detailverliebtheit aus. All diese Facetten finden sich auf dem Album wieder.

Entweder in den gesprochenen Texten der Kanadierin – oder in den meist rüde nach vorne schreitenden Tracks von „Working Class Woman“; je länger man dabei bleibt, desto wirkmächtiger entfaltet sich die Musik. Zwischen analogen Drumsettings, zwitschernden Acid-Lines, Arpeggiatoren und den fast schon therapeutisch-anmutenden Texten wartet vor allen Dingen: eines der besten elektronischen Alben der letzten Zeit – da können nur die wenigsten Männer mithalten. Hoffen wir mal, dass sich das schnellstmöglich rumspricht. Lars Fleischmann

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