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Playstation oder Trampolin?

An einigen Berliner Schulen bekommen SchülerInnen 4.000 Euro in die Hand gedrückt. Was sie dafür anschaffen, entscheiden die Mädchen und Jungen ganz alleine. Nicht überall stößt diese Art von Mitbestimmung auf Begeisterung

Aus Berlin Ralf Pauli

Für den Urnengang sind die fünf jungen WahlhelferInnen bestens vorbereitet: Lisa und Sara sitzen hinter einem Stapel Wahlzettel vor dem Klassenzimmer 005 und warten auf MitschülerInnen. Gerade haben sie der 3b erklärt, dass jedes Kind insgesamt sechs Kreuze machen darf. Drei auf der Vorder- und drei auf der Rückseite. Drinnen kümmern sich Karim, Julius und Luis Felipe um die DrittklässlerInnen, weisen Plätze zu, händigen Stifte aus, zeigen, wo die Wahlurne steht und wie man den Stimmzettel falten muss, damit er durch den Schlitz passt.

An diesem Freitag stimmt die Grundschule Neues Tor darüber ab, wofür sie 4.000 Euro ausgeben will. Genauer: Die Schülerinnen und Schüler stimmen darüber ab – LehrerInnen und ErzieherInnen sind nicht wahlberechtigt. Auch die Schulleitung hat kein Wort mitzureden. Was die Kinder aus den insgesamt 30 Vorschlägen, die sie in den vergangenen Wochen gesammelt haben, am häufigsten ankreuzen, wird angeschafft. Selbst, wenn Erwachsene Kuscheltiere, Lärmschutzkopfhörer oder ein Aquarium an der Schule für Quatsch halten. Oder abzusehen ist, dass der innige Schülerwunsch anschließend kaum genutzt wird. So wie der Massagestuhl, für den sich die GrundschülerInnen vor zwei Jahren entschieden haben.

„Schüler*innenhaushalt“ heißt das Projekt, das 26 Berliner Schulen Geld für zusätzliche Ausstattung beziehungsweise Lern- oder Lehrmittel zur Verfügung stellt. Einzige Auflagen: Die Anschaffung darf keine Folgekosten verursachen und aus baurechtlichen Gründen nicht fest am Boden verankert sein. WLAN an der Schule geht also nicht, Fußballtore auf Rollen hingegen schon. Die zweite Bedingung ist schon kniffliger: Erwachsene sollen sich bei den Vorschlägen, der Wahlvorbereitung und -durchführung so weit wie möglich raushalten. Die Idee dahinter: Wenn Kinder lernen sollen, Verantwortung zu übernehmen, muss man ihnen auch welche übertragen. Und das möglichst früh.

Erste Erfahrungen mit Schülerhaushalten haben Schulen in Brasilien gemacht, vor ein paar Jahren importierte die Bertelsmann Stiftung das Konzept nach Deutschland. Seit 2014 betreut ein Berliner Verein das Projekt für die Hauptstadtschulen, in diesem Jahr hat der Senat seine Finanzierung testweise übernommen. Wie viele Schulen landesweit Schülerhaushalte zulassen, ist nirgends dokumentiert. Klar ist aber: In Zeiten, in denen die Demokratieerziehung unter sorgenvoller Beobachtung steht, haben Beteiligungsprojekte wie der Schüler*innenhaushalt etwas Verheißungsvolles: Teenager, die ermutigt werden, sich an ihrer Schule zu engagieren, bringen sich später auch in die Gesellschaft ein. So weit die Theorie.

Über die Praxis kann Buchan Heiß sprechen. Der 37-jährige Grundschullehrer schließt einen Kellerraum auf und deutet auf die hintere Ecke. „Da steht der Massagestuhl“, sagt Heiß. „Ist echt super. Wollen Sie mal?“. Und dann erzählt Heiß – Locken, Kapuzenpulli, rote Turnschuhe –, warum er den Schülerhaushalt auch dann für eine sinnvolle Sache hält, wenn ein Massagestuhl kaum zum Einsatz kommt oder die gewünschten Schließfächer gar nicht für alle reichen. „Die Kinder sehen, dass sie selber etwas verändern können. Für viele ist das eine ganz neue Erfahrung.“

Deshalb versuche er, Mitbestimmung auch im Unterrichtsalltag so weit wie möglich zuzulassen. „Wir haben einmal die Woche Klassenrat und neulich haben mich die Kinder dort überstimmt“, lacht Heiß. „Das ist doch super.“ Dass seine SchülerInnen schon mit ihren zehn, elf Jahren ihre Bedürfnisse formulieren und ihren Lehrer mit Argumenten ausstechen, macht Heiß sogar ein bisschen stolz. „Das ist mir wichtiger als der Unterrichtsstoff.“ Deshalb betreut Heiß, der „am Neuen Tor“ Deutsch, Mathe, Englisch und Musik unterrichtet, auch gerne den Schüler*innenhaushalt. Auch wenn das Projekt an manchen Tagen zulasten seiner Stundenvorbereitung gehe.

Am Wahltag sieht man, wie viel Arbeit Heiß und sein fünfköpfiges Koordinierungsteam investiert haben: Wahlzettel auf Deutsch und Portugiesisch (die Grundschule ist eine zweisprachige Europaschule), eine liebevoll als Aquarium dekorierte Wahlurne, Tische mit Sichtschutz, die eine geheime Wahl ermöglichen sollen. Selbst an die ErstklässlerInnen, die ja noch nicht lesen können, haben Sara, Lisa, Luis Felipe, Julius und Karim gedacht und alle 30 Vorschläge gezeichnet und zusammen mit den entsprechenden Nummern auf einem Blatt Papier abgebildet. Wer für das Trampolin ist, sieht nun auf einen Blick: Ich muss Vorschlag Nummer 2 ankreuzen.

„So gut vorbereitet gehen nicht alle Schulen in die Wahl“, sagt Evelyn Schulz-Algie von der Servicestelle Jugendbeteiligung. Der Verein hat den Schüler*innenhaushalt an die Berliner Schulen gebracht. Jedes Jahr wächst die Zahl der Schulen, die sich beteiligen. Das liegt vor allem am Bezirk Mitte, der mittlerweile für 16 der 26 beteiligten Schulen das Geld zur Verfügung stellt. Geht es nach Petra Schrader von der Linkspartei, sollen künftig noch mehr Schulen in ihrem Bezirk mitmachen dürfen. Momentan ist es etwa jede dritte. Schrader sitzt im Schulausschuss der Bezirksverordnetenversammlung. Dort setzt sie sich für kommunale Beteiligungsverfahren von Kindern und Jugendlichen ein. „Es geht nicht nur darum zu sagen: Wir trauen den Schülerinnen und Schülern etwas zu“, sagt Schrader. „Die Jugendlichen haben ein Recht auf Mitbestimmung.“ Am Schülerhaushalt könne man beobachten, zu welchen tollen Ergebnissen das führen kann.

Auch Projektleiterin Evelyn Schulz-Algie staunt, wie kreativ die SchülerInnen bisweilen ihren Haushalt einsetzen, um Probleme aus ihrem Schulalltag zu lösen. So hat etwa die Gesundbrunnenschule zum Abkühlen an heißen Sommertagen eine Wasserrutsche angeschafft – Ventilatoren für die Klassenzimmer waren zu teuer. An einer anderen Grundschule wollten die Kinder unbedingt eine Dönerbude haben. Ihre Begründung: Das Schulgelände dürften sie nicht verlassen. Eine Mensa aber gebe es nicht. Wer nichts zu essen dabeihat, müsse hungern. Selbst Spaßvorschläge wie die Schulziege bewirken, dass sich die SchülerInnen ernsthaft mit der Frage beschäftigen: Ist das sinnvoll? Kann das wirklich funktionieren?

„Die Kinder sehen, dass sie selber etwas verändern können. Für viele ist das eine ganz neue Erfahrung“

Buchan Heiß, Grundschullehrer

„Die Kunst für die Erwachsenen ist es, diese Verantwortung wirklich aus der Hand zu geben“, so Schulz-Algie, die an der Freien Universität Berlin den mittlerweile abgeschafften Kinderrechts-Master studiert hat. Wie stark die Mädchen und Jungen mitmachen, liege nicht nur daran, wie stark LehrerInnen und SchulsozialarbeiterInnen das Projekt unterstützten. „Wir können an der Wahlbeteiligung ablesen, wie wichtig die Schule das Thema Mitbestimmung generell nimmt.“ Eine große Rolle spiele auch, was die SchülerInnen aus den Familien mitbringen. Entscheidend aber sei: Wie viel durften sie bislang an ihrer Schule mitbestimmen? „Wenn Schülerinnen und Schüler mit 15 zum ersten Mal um ihre Meinung gefragt werden, ist das natürlich ein Problem“, so Schulz-Algie. Dann fehle schlicht die Übung.

So wie an der Sekundarschule am Schillerpark. Dort dürfen SchülerInnen das erste Mal die 4.000 Euro ausgeben. „Die Hälfte der Vorschläge: PS4“, sagt Florian Genske und seufzt. Doch die aktuelle Playstation, die sich so viele SchülerInnen hier wünschen, ist heute seine geringste Sorge. Zusammen mit seiner Kollegin Annelie Fehse betreut Genske den Schüler*innenhaushalt an der Schule im Berliner Stadtteil Wedding. Im „Spieleraum“ erwarten die beiden SchulsozialarbeiterInnen ihr Koordinierungsteam. Mit den Lehrkräften ist vereinbart, dass eine Person pro Klasse dafür fehlen darf. Doch von den rund 25 SchülerInnen kommt nicht einmal die Hälfte. Haben die SchülerInnen den Termin vergessen? Durften sie nicht aus dem Unterricht gehen? Genske und Fehse wissen es nicht. Sie lassen aber zweierlei durchblicken: erstens, dass sie die SchülerInnen schon eher „pushen“ müssten. Und zweitens, dass es im Lehrerzimmer auch Vorbehalte gegenüber dem Projekt gebe. „Wenn die Kids in zwei Wochen wirklich für die Playstation stimmen, fühlt sich manch einer an der Schule sicher bestätigt.“ Dabei gebe es auch viele andere Vorschläge: neue Sitzsäcke für den Spieleraum, Computerboxen, eine Uhr für den Pausenhof.

„Ich bin gespannt, was die Schüler wählen“, sagt Schulleiter Ronald Fischer. Es gebe ja auch viele sinnvolle Vorschläge. Die Vorbehalte im Kollegium erklärt er damit, dass sich viele Lehrkräfte nicht weiter mit dem Projekt befasst hätten. Und man müsse leider auch von einer „schwierigen Schüler­klientel“ sprechen. Die Schule am Schillerpark erhält deshalb extra Mittel vom Senat, etwa für zusätzliche Schulsozialarbeit. Dass die Jugendlichen generell nicht leicht zu motivieren seien, liege jedenfalls nicht an den „engagierten Sozialarbeitern“, so Fischer.

Nach dem Koordinierungstreffen im Spieleraum sind noch einige Fragen offen: Wer organisiert die Werbung für die Wahl? Wer gestaltet und kopiert die Wahlzettel? Wer überlegt sich, wie viele Stimmen jede Person vergeben darf? Freiwillige? Fehlanzeige. Florian Genske und Annelie Fehse haben noch einiges vor sich, damit die Wahl so reibungslos abläuft wie an der Grundschule Neues Tor. Dort ist man schon weiter. Die Stimmenauszählung hat ergeben: Die Schule soll mit einem Snackautomaten ausgestattet werden. Und als neues „Lehr- und Lernmittel“ soll noch im Oktober ein Trampolin angeschafft werden. Darauf wären Erwachsene wahrscheinlich nicht gekommen.

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