Filmjournalist über Horrorfilme: „Gradmesser für kollektive Neurosen“

Christian Keßler hat eine Leidenschaft für die Genres, die früher im Bahnhofskino liefen. Jetzt hat er ein persönliches Buch über den Horrorfilm geschrieben.

Ein kostümierter Schauspieler mit einer Axt.

Inspiriert vom Horrorfilm: Ein Schauspieler beim Halloween-Festival auf Burg Frankenstein Foto: dpa

taz: Geister, Mumien, Werwölfe, Zombies und Serienkiller – gibt es einen gemeinsamen Nenner, Herr Keßler, auf den man den Horrorfilm bringen kann?

Christian Keßler: Schwer zu sagen. Es gibt ja für einen geistig halbwegs gesunden Menschen keinen guten Grund, sich Filme anzuschauen, die von tendenziell Unerfreulichem handeln. Das schließt auch Krimis, Psychothriller und viele Filme von Ingmar Bergman mit ein. Ich schätze, dass das einfach damit zu tun hat, dass jeder Mensch ein buntes Sortiment an frei flottierenden Ängsten im Busen hat, das für gewöhnlich unterdrückt wird.

Warum also Horrorfilme ansehen?

Horrorfilme bieten einem die Möglichkeit, diesen Ängsten einen Namen zu geben und sie durchzuspielen, und in den meisten Fällen lebt man danach noch und kann sogar ein leckeres Erdbeereis essen. Diese Eigenschaft des Horrorkinos führt auch dazu, dass die Filme ein akkurater Gradmesser für die kollektiven Neurosen einer Gesellschaft sind.

Sie haben sich für Endstation Gänsehaut Hunderte von Filmen angeschaut. Anhand welcher Kriterien kann man unterscheiden zwischen Blödsinn, Exploitation, Mainstream und Kunst?

Solche Unterscheidungen sind so ein langweiliger Zopf. Bei meinem Filmkonsum ging es zu wie im Versuchslabor. Ich bin interdisziplinär herumgehüpft, dass es eine reine Lust war. In anderen Ländern ist es so, dass man mit der Unterscheidung etwa zwischen E-Musik und Popmusik keine solchen Probleme hat. In Japan spielten die Einstürzenden Neubauten früher in Stadthallen – das waren Popstars! Und was Genrefilme angeht, hatte ich zwar immer eine Vorliebe für gewisse Genre-Versatzstücke – etwa Geisterhäuser mit wehenden Vorhängen, flackernden Kerzen und quietschenden Türen. Aber wirklich mein Herz verloren habe ich an die Grenzgänger.

Zum Beispiel?

Was sind etwa die Filme von David Cronenberg? Im Unterschied zu früher werden seine Sachen jetzt auch stolz in Cannes präsentiert und von der seriösen Filmkritik zur Kenntnis genommen. Aber den Kinofan kratzt so was nicht. Ich war immer sehr für das Miteinander, für das fröhliche Gemische.

Was ist denn Ihr jüngster Genre-Favorit – und warum?

50, ist freier Film­journalist aus Bremen, unter anderem für Splatting Image.

Unmöglich, das zu sagen. Ich bin immer dann besonders begeistert, wenn mich ein Film wirklich überrascht. Ich werde nie vergessen, wie ich zum ersten Mal den japanischen Geisterfilm Ringu gesehen habe. Es war stockdunkel in der Stube, und als Sadako aus dem Fernseher krabbelte, hatte ich eine Gänsehaut auf der Gänsehaut. Nachdem ich den Fernseher ausgeschaltet hatte, dauerte es übrigens keine zehn Sekunden, und das Telefon klingelte. Wer den Film kennt, weiß, wie ich mich gefühlt habe.

Nach Ringu war mir auch richtig mulmig.

In Paranormal Activity gibt es dieses niederfrequente Grummeln, wann immer die geisterhafte Präsenz erscheint. Nun, als ich den Film ausdrehte, war es ein Uhr morgens, und ich hörte in meiner Wohnung niederfrequentes Grummeln! Es war der Schleudergang der Waschmaschine der Nachbarn.

Beim Schlussmoment von Paranormal Activity hab ich schrill losgekiekst und war im Nachhinein froh, dass ich den nicht im Kino gesehen habe.

The Eye habe ich mit Freunden zusammen geschaut. Als die Oma im Krankenhausflur erscheint, bin ich kreischend rücklings an die Heizung geflogen. Ein Triumph.

Sie versuchen, vorurteilsfrei zu werten. Das ist nicht selbstverständlich in der Filmkritik. Allerdings ist im Horrorgenre auch viel schlimmer Quatsch zu finden. Macht ein Film wie beispielsweise der siebte Teil der Saw-Reihe nicht vor allem müde?

Christian Keßler, „Endstation Gänsehaut. Eine persönliche Reise durch das Horrorkino“. Martin Schmitz Verlag, 400 S., 29,80 Euro

Na klar, das meiste, was heutzutage im Bereich des Horrorkinos hergestellt wird, ist völliger Mist. Umso sinnvoller sollte es sein, auf die wirklich interessanten, innovativen und geistvollen Sachen hinzuweisen, denn gute Filme gibt es nach wie vor in Hülle und Fülle. Sie sind nur eingepackt in Kuhfladen, die man erst einmal abpulen muss. Ich schreibe über meine Begeisterung für das Kino und die Fantasien, die darin eingesperrt sind, und hoffe immer, andere damit zu infizieren.

Geht es Ihnen dabei um die Vermittlung von Vergnügen? Oder gehen Sie davon aus, dass da noch mehr drinsteckt?

Sowohl als auch. Ich bin – egal, um welche Art von Kino es sich handelt – immer ein aktiver Zuschauer gewesen. Wenn es sich um einen guten Film handelt, saugt der mich in sich hinein, und dann nehme ich wirklich teil am Geschehen. Und natürlich lernt man einiges für seinen Alltag. Wenn man gesehen hat, was Roman Polanski in Der Mieter passiert, ist man wirklich froh, was für angenehme Nachbarn man selber hat. Wenn ich Hitchcocks Psycho sehe, bin ich doppelt so froh über meine Eltern, als das ohnehin schon der Fall ist.

Horrorfilme öffnen die Augen für die anderen?

Wenn man dramatische Erzählungen nicht einfach so wegkonsumiert, sondern sie wirklich durchlebt, sind die Menschen draußen auf der Straße auch keine Statisten im eigenen Film mehr, sondern Träger eigener Geschichten, erfreulicher wie schnöder. Filme können in der Tat Nährboden für Empathie sein, davon bin ich überzeugt. Und ich versuche mit meinen Texten, das weiterzugeben, was ich für gut, wahr und schön halte. Gleichgültigkeit als Normalzustand wünscht sich kein Mensch.

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