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Im echten Untergrund

Wer Drogen nimmt, kann abtauchen. Aber was bewirken Drogen, wenn sie in der Kanalisation wieder auftauchen? Ein Text mit Tiefgang

Wie ’ne Mischung aus Speed und LSD: Fische, Farben, Formen Foto: Christian Jungeblodt

Von Helmut Höge

Der Wiener Künstler und Philosoph Fahim Amir schreibt in seinem Anti-Heidegger-Buch „Schwein und Zeit“ (2018), dass der Friedrichshainer Technoclub Berghain zwar die „Fahne des Undergrounds hisst“, den „echten Underground“ finde man jedoch eher unter dem Club: in der Kanalisation. Sie verläuft immer noch vom beziehungsweise zum Kunstraum Radialsystem. Dieses Abwasserpumpwerk 5 sammelte einst bis hin zur Schönhauser Allee in Prenzlauer Berg die Abwasser und pumpte sie auf die Rieselfelder in Falkenberg.

Fahim Amir geht davon aus, dass all die Drogen, die im Berghain genommen werden, ja auch wieder raus müssen und dann eben in die Kanalisation fließen, „wo die dort lebenden Tiere in wahren Duschen von Hormonen und anderen potenten Molekülen gebadet werden“.

Der Autor schrieb 2016 das Nachwort für die Merve-Ausgabe des „Manifests für Gefährten“ der feministischen Biologin Donna Haraway. Für sein Buch über „Tiere, Politik, Revolte“ ging er jetzt von ihrem Begriff Agency aus, um den Widerstand der Tiere zu erfassen und sie nicht immer nur als Opfer zu sehen. Auch will er kein Spielverderber sein. Deswegen kann er sich durchaus vorstellen, dass es in der Kanalisation unter dem Berghain „amphetamingedopte Ratten gibt, die vor sich hin raven, hochfrequent kopulierende Kakerlaken auf Kokain [wobei laut Wikipedia Trommelsignale des Männchens eine Rolle spielen; der Autor], kuscheltrunken aneinander abrutschende Kröten auf MDMA oder Ketamin-Mäuse in psycho-aktiver Dissoziation“.

In der Kanalisation schwimmen aber noch ganz andere Drogen, die in die offenen Gewässer gelangen: In vielen nordamerikanischen Seen finden die Chemiker etwa Östrogene in erheblichen Mengen. Die männlichen Fische entwickeln sich dadurch zu Weibchen. Ähnliches passiert auch umgekehrt. Die Welt berichtete: Eine Gruppe chinesischer Biologen habe festgestellt, dass das Abbauprodukt DHT des Hormons Testosteron, das von Bodybuildern eingenommen wird, um ihr Muskelwachstum zu forcieren, bewirkt, dass „Froschweibchen vermännlichen“, wenn es mit dem Urin in Flüsse und Seen gelangt.

Am Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei am Müggelsee war man überrascht, „als bei Fröschen unter dem Einfluss eines Gestagens – eines weiblichen Geschlechtshormons – ausgerechnet die Schilddrüsen verkümmerten. Man hatte eher mit einem Effekt auf die Fortpflanzung gerechnet“, schreibt Die Welt. Vielleicht so wie früher bei den südafrikanischen Krallenfröschen, die man für Schwangerschaftstests benutzte. Dazu wurde den weiblichen Fröschen Frauenurin gespritzt. Stammte er von einer Schwangeren, laichten die Lurchen innerhalb von 18 Stunden.

Inspiriert von den LSD-Versuchen der Harvard-Psychologen und der englischen Armeeführung wollte der Friedenauer Germanist Dirk Reich ebenfalls mit LSD experimentieren, traute sich dann aber nicht und testete die Droge erst einmal bei Fischen. Er besaß ein Aquarium mit großen und kleinen Fischen. Die kleinen Guppys hatten, obwohl in der Überzahl, unter den großen Schwertfischen gelegentlich zu leiden, vor allem fraßen Letztere ihnen regelmäßig den Nachwuchs auf. Nachdem Dirk Reich seinen LSD-Trip ins Wasser geworfen hatte, verkrochen sich die großen hinter Steinen und Pflanzen, während die kleinen sich zunächst oben an der Wasseroberfläche sammelten. Dann schwammen sie zu den großen und attackierten sie – so lange, bis sie tot waren.

Mir kam diese Geschichte wie ausgedacht vor. Aber dann las ich im Spektrum der Wissenschaft, dass zwei Zoologen der schwedischen Universität Umea die Wirkung von Medikamentenrückständen in Gewässern untersucht hatten, konkret: den Effekt des angstlösenden Wirkstoffs Oxazepam auf einheimische Flussbarsche. Sie beobachteten deren Verhalten vor und nach Zugabe von Oxazepam zum Wasser und stellten fest, dass die Fische durch das Präparat aktiver wurden, schneller fraßen und bereitwilliger neue Beckenbereiche erforschten.

„Normalerweise sind Barsche scheu und jagen in Schwärmen. Das ist eine bewährte Überlebensstrategie. Doch diejenigen, die in Oxazepam schwimmen, sind wesentlich mutiger“, erklärte einer der Wissenschaftler.

Depressive Fische

Forscher des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie fanden bei einigen Zebrafischen Anzeichen einer Depression. Als sie Medikamente gegen Angstzustände, Valium (ein Beruhigungsmittel) und Prozac (einen „Aufheller“ – Fluctin in Deutschland genannt), ins Wasser gaben, „normalisierte sich ihr Verhalten“. Schon ein Sichtkontakt mit anderen Zebrafischen, die durch eine Scheibe von ihnen getrennt waren, „besserte ihre Stimmung,“ teilte die Max-Planck-Gesellschaft mit.

„Normalisieren“ kann sich nicht nur das Verhalten einiger Individuen, sondern auch ganzer Populationen. Fahim Amir erwähnt das potenzsteigernde Mittel Viagra: „Die Umsatzzahlen von Robbengenitalien aus Kanada und Rentierbastgeweihen aus Alaska brachen nach Einführung von Viagra durch den Pharmakonzern Pfizer im Mai 1998 massiv ein. Ähnliches gilt für Seegurken, Seepferdchen, Geckos und die Grüne Meeresschildkröte.“

Den Grund sieht Fahim Amir zum einen in der schnell überprüfbaren Wirkung des chemischen Mittels und der Unsicherheit bei der Einnahme der anderen, eher magischen Mittel. Und zum anderen im Preis: „Viagra, gerade als Generikum, ist oft günstiger als die entsprechenden Pendants aus Tierkörpern.“ Dem Autor kam daraufhin die Idee, „dass ‚Chemie‘ nicht nur Bestandteil ökologischer Probleme ist, sondern auch Teil der Lösung sein könnte.“

Was gut ist für einige Tierarten, die durch diese künstliche Substituierung potenzsteigernder Wundermittel weniger von Wilderern verfolgt werden, kann jedoch für andere eventuell schlecht sein: Noch hat man nicht untersucht, was mit der Aquafauna und -flora geschieht, wenn immer mehr Viagra in die Gewässer gelangt. Die Band Four Bitchin’Babes“ hat das in ihrem Lied „Viagra in the Waters“ jedoch schon mal vorgedacht – bezogen auf die Bewohner von „Johnson City“: „Save your sons / Shield your daughters/ There’s Viagra / In the waters.“

Dass auch hierzulande erhebliche Mengen Viagra in die Gewässer gelangt, ist unumstritten. Zwar wurden in den vergangenen Jahren immer wieder Proben etwa in einer Kläranlage in Ober-Eschbach im Taunus entnommen für eine Studie zum Thema „Was macht Viagra im Gewässer?“. Vermutet hatten die Forscher, dass in einer Stadt mit älterer Bevölkerung auch der Viagra-Konsum höher sei und dieser sich im Abwasser und anschließend auch im Eschbach nachweisen lassen müsste. Der Betriebsleiter der Anlage hat jedoch die Ergebnisse der Untersuchung nie zu Gesicht bekommen.

Gut möglich, dass es in der Kanalisation unter dem Berghain „amphetamin-gedopte Ratten gibt, die vor sich hin raven“

In Berlin befindet sich in Waßmannsdorf die modernste Kläranlage der Stadt. Was für die „Mülltrennung“ gilt, gilt auch für die Abwässer. Das Trennen im Klärwerk – etwa des wertvollen Phosphats – geschieht mit Bakterienstämmen und in Faultürmen. Das Endprodukt wird an Düngemittelhersteller verkauft. Um aus den festen Bestandteilen auch noch Humus für Gärtner und Landwirte zu machen, arbeitet man mit anderen Mikroorganismen und Regenwürmern. Aber da auch deren Ausscheidungen noch zu viele Medikamentenrückstände enthalten, wird es einstweilen verbrannt und dient dem Klärwerk zur Eigenstromversorgung.

„Holländische Forscher vom Nationalen Institut für öffentliche Gesundheit und Umwelt analysierten die Viagra-Rückstände, das heißt dessen Wirkstoff Sildenafil, in den Abwässern von Amsterdam, Eindhoven und Utrecht und verglichen die erhaltenen Messwerte mit der Anzahl der Rezepte, die in den ausgewählten Städten für das Potenzmittel ausgestellt worden waren“, berichtete Die Welt. Dabei stellte sich heraus, dass die Arzneirückstände im Wasser um 60 Prozent höher waren, als sie es eigentlich gemäß der Verschreibungen hätten sein dürfen.

„In den Niederlanden ist also offenbar viel Sildenafil aus dem Schwarzmarkt im Umlauf“, resümiert der Forschungsleiter Bastiaan Venhuis. „Und dessen Reste gelangen am Ende genauso wie seine offiziell gehandelten Pendants in den Wasserkreislauf.“

Einige Klärwerke experimentieren bereits mit Aktivkohle und Ozon, um sie herauszufiltern. Doch die darin gesetzten Hoffnungen haben sich laut Die Welt noch nicht erfüllt. „Dresdener Physiker und Ingenieure tüfteln daher daran, Wasser mit hochaktivem UV-Licht zu bestrahlen, um die Strukturen der Schadstoffe zu zerstören.“

Auch die holländischen Forscher haben im Übrigen nicht untersucht, „was diese Arzneirückstände für konkrete Folgen in der Natur haben“, das heißt bei den Wassertieren und -pflanzen, erst recht nicht bei ihren Fressfeinden, Vögel etwa, bei denen sich die „Schadstoffe“ im Körper anreichern können. Hierzulande kommt noch hinzu: „In jedem siebten Haushalt werden viele Medikamente gar nicht erst geschluckt, sondern über die Klospülung entsorgt.“

Mit Fahim Amir kann man einstweilen nur hoffen, dass auch dieser Medikamentencocktail in den Gewässern für gute Stimmung sorgt.

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