Befreit den Sex!

Archaische Moral und digitale Moderne: Leïla Slimani interviewt eine hybride Generation marokkanischer Frauen

Der verdrängte weibliche Körper Foto: Emile Luider/rea/laif

Von Edith Kresta

Dunkel, bitter, traurig – die Gesprächsprotokolle der Schriftstellerin und Prix-Goncourt-Preisträgerin Leïla Slimani mit marokkanischen Frauen zum Thema Sex erzählen von individuellem Leid, von Verdrängung, Anpassung, Entwertung, Heuchelei. Es sind Frauenschicksale, die ein erschreckendes Gesamtbild geben: das sexuelle Elend einer Gesellschaft. Das Buch „Sex und Lügen“ ist ein Blick nach Marokko aus einer radikalen Perspektive. Eine Suche nach dem verdrängten weiblichen Körper, der dem Zwang der Gruppe unterworfen ist. Der Anspruch auf weibliche Lust und Sexualität ist das gesellschaftliche Tabu schlechthin.

Die Unterdrückung weiblicher Sexualität in der arabischen Welt haben Feministinnen wie die Marokkanerin Fatima Mernissi, die Ägypterinnen Nawal el-Saadawi und Mona Eltahawy oder die Algerierin Assia Djebar lange vor Slimani thematisiert. Die erfolgreiche Schriftstellerin bricht das Schweigen erneut und zeigt: Das Moralkorsett erstickt die Frauen auch heute, trotz Globalisierung und Digitalisierung.

Slimani ist eine legitimierte Zeitzeugin: Gebürtige Marokkanerin, Intellektuelle, jung, nahe dran, suchend, überzeugend. Das bricht den herrschenden Diskurs über die arabische Welt: Zwischen den zwei Polen, Westen und Islamismus, gibt es eine Realität von Männern und Frauen, die leben, die lieben, die leiden.

Die marokkanischen Frauen, mit denen Slimani sprach, sind Ehefrau, Therapeutin, Medizinerin, Prostituierte, Moderatorin. Sie erzählen von sexuellen Träumen und sexuellen Traumata. Von der Hysterie um die Jungfräulichkeit, von nagenden Schuldgefühlen, von Begehren, Demütigung, Missbrauch und vom Nichtwissen über Sexualität. In einem Land, wo nach Artikel 490 des Strafgesetzbuchs außerehelicher Sex noch heute mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft werden kann. Während die Frauen immer mehr Posten in der Gesellschaft besetzen, wurden ihre Rechte mit dem Personenstandsgesetz von 2004 nur zögerlich angepasst. Fakt bleibt: Auf dem Körper der Frau lastet die Moral einer Gesellschaft. Eine wie Slimani sagt „kümmerliche Moral“, die Leute wegen einem Kuss in der Öffentlichkeit bestraft.

Faty Badi, die eine Hörersendung im Radio moderiert, sagt: „Die Gesellschaft ist sehr prüde, konservativ und zugleich vollkommen besessen vom Sex und davon, es im Bett zu bringen. Die Leute leiden unter einer regelgerechten Persönlichkeitsspaltung. (…) Diese ganze sexuelle Frustration führt zu Gewalt und Boshaftigkeit.“

Angst, sich zu beschmutzen

Neben Frauen lässt Slimani auch einen Theologen, einen Regisseur, einen Polizisten und einen Soziologen sprechen. „Die feministischen Gruppen vernachlässigen das Problem der Sexualität. Genau wie die politischen Parteien haben sie Angst, ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren, sich zu beschmutzen“, sagte der Soziologe Abdessamad Dialmy. „Wie häufig hört man, wenn man mit Progressiven spricht, dass man nicht zu schnell und zu weit gehen könne, um die Öffentlichkeit nicht zu sehr gegen sich aufzubringen, die so sehr an ihrer Tradition hängt. In diesem Fall der Unterdrückung der Frau.“

„Ich leide nicht darunter, dass ich nicht mit meinem Freund schlafen darf, ich finde es zum Kotzen“, sagt die Ärztin Malika. „Das Problem ist, dass ich mich irgendwie verkehrt fühle … Die Heuchelei nimmt zu, ebenso wie der Konservatismus.“

Leïla Slimani: „Sex und Lügen. Gespräche mit Frauen aus der islamischen Welt“. btb, München 2018, 208 S., 12 Euro

Zwar hätten die arabische Revolution, die Herausbildung von Mittelschichten und das Aufkommen von Social Media den Klammergriff des Schweigens gelockert, schreibt Leïla Slimani. Aber zwischen wachsendem Fundamentalismus, angefeuert durch den in den Maghreb strömenden Wahhabismus, und einer digitalen Moderne, die alte Werte hinwegfegt, muss die Befreiung der Erotik wie jede Befreiung „hart erkämpft werden“. Dem voraus gehe eine seltene Freiheit: „das Recht, eigenständig zu denken“, schreibt Slimani.

Slimani nimmt es sich. Ob die in Paris lebende Schriftstellerin in Marokko als privilegierte Landesverräterin beschuldigt wird, ob man ihr unter Pariser Intellektuellen Islamophobie aus Opportunismus vorwirft: Slimani benennt existenzielles Unrecht. Gegen identitäre Zuschreibungen wehrt sich die gebürtige Marokkanerin ohnehin.

Die #MeToo-Enthüllungen hätten etwas aufgedeckt, das nicht nur mit sexueller Belästigung zu tun hat, sagte sie in einem Interview mit der Zeit: „Nach Köln haben viele gesagt, dass arabische Männer weiße Frauen vergewaltigen wollen. In den USA wurde schwarzen Männer das Gleiche vorgeworfen. Weiße Männer aber galten als unproblematisch. Seit Harvey Weinstein wissen wir, dass es ein universelles Problem gibt. Es ist keine Frage von Herkunft oder Hautfarbe.“

Aber es ist eine Frage von Macht, religiöser Ideologie, Arm und Reich. Auch für Marokko gilt: Wer Geld und Verbindungen hat, kann frei vögeln und braucht praktisch nichts zu befürchten.