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Eine Frage der Atmosphäre

Gut gemeint: Die Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“ will Schüler*innen besser vor „sexuellem Missbrauch“ schützen

Von Joachim Göres

Dürfen Lehrer*innen Schüler*innen zu sich nach Hause einladen? Eine von vielen Fragen, die Johannes-Wilhelm Rörig von verunsicherten Eltern und Pädagog*innen gestellt bekommt. Meist kann der unabhängige Bundesbeauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs seine Gesprächspartner*innen beruhigen. Also: einladen oder nicht? „Im Prinzip ja“, so Rörigs Antwort. „Aber es sollte fachlich begründet sein und der Schulleitung gemeldet werden, dann gibt es keine Heimlichkeiten.“

Dürfen Lehrer*innen SchülerInnen nach einem Sportturnier umarmen? „Ja, aber solch eine Geste darf nicht für eine sexuelle Berührung genutzt werden.“ Und wenn ein Lehrer ein Mädchen unabsichtlich am Po berührt? „Dann sollte er sich entschuldigen und der Schulleitung Bescheid sagen.“ Sind Fotos beim Umkleiden in der Sportkabine erlaubt? Hier ist Rörigs Antwort kurz: „Nein!“

Rörig hat kürzlich in Hannover die Aktion „Schule gegen sexuelle Gewalt“ vorgestellt, die im vergangenen Jahr in Schleswig-Holstein und Hamburg und vor Kurzem auch in Niedersachsen und Bremen gestartet ist. Man müsse Schüler*innen signalisieren, dass man ihnen zuhöre, sagt Rörig, „damit sie sich anvertrauen können“. Dazu soll das von ihm mitentwickelte Schutzkonzept beitragen, das bis Ende des Jahres in allen Bundesländern gelten soll. Es sieht etwa die Einrichtung einer Beschwerdestelle an der Schule vor, an die sich Betroffene wenden können. Lehrkräften sollen Fortbildungen angeboten werden, damit sie wissen, was sie tun können, wenn sich ihnen ein*e Schüler*in anvertraut.

Bestandteil ist daneben das Aufstellen eines Interventionsplans, der regelt, wie bei einem Verdachtsfall vorzugehen ist. Sollte sich ein Missbrauchsverdacht gegen eine Lehrkraft irgendwann als unbegründet herausstellen, ist ein Rehabilitationsverfahren einzuleiten. Und schließlich sollen die Pädagog*innen einen Verhaltenskodex für ihre Schule erarbeiten, um festzulegen, welches Verhalten erlaubt ist und welches nicht. Das kann private Kontakte betreffen, aber genauso den Umgang mit Fotos und sozialen Netzwerken. „Wir wollen alles dafür tun, dass Schule kein Tatort wird, sondern Schutzort“, sagt Rörig.

Interventionsplan und Verhaltenskodex

Dies scheint auch nötig, wenn man Jörg Fegert zuhört. Der ärztliche Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Ulm sprach in Hannover als Experte zu sexuellem Missbrauch an Schulen. Nach seinen Angaben haben in Deutschland in der Altersgruppe der 18–29-Jährigen 13 Prozent der Frauen und 7 Prozent der Männer sexuellen Missbrauch als Kind oder Jugendlicher erlebt. Bei einer Auswertung von 6.000 Opferberichten gab es demnach 1.320 Fälle, in denen Minderjährige von Erwachsenen in Institutionen missbraucht wurden. 22 Prozent dieser Fälle wiederum trugen sich an Schulen oder Internaten zu.

Neun von zehn Täter*innen sind männlich. Und sie seien „oft sehr empathisch, haben einen Blick dafür, welches Kind nach Aufmerksamkeit sucht“, sagt Fegert. „Sie bauen gezielt Schamgrenzen ab und erzeugen bei Kindern durch Manipulation Schuldgefühle.“ Kinder hätten oft das Gefühl, bei dem Übergriff mitgemacht zu haben und dafür bevorzugt behandelt worden zu sein – deshalb sei es schwierig für sie, darüber zu sprechen.

17 Monate brauche ein*e Betroffene*r im Schnitt, um sich doch noch anderen anzuvertrauen. „Ich sage dir was, aber du darfst nicht darüber sprechen“ – ein Satz, den Fegert immer wieder hört. „Das Versprechen kann ich dir nicht geben“, lautet seine Antwort, mit der er gute Erfahrungen gemacht hat: „Die Kinder vertrauen sich einem trotzdem an, aber sie fühlen sich nicht verraten, wenn man aktiv wird.“ Fegert empfiehlt Vertrauenspersonen die genaue Dokumentation des Falles; also die möglichst wörtliche Wiedergabe, keine Interpretation, keine suggestiven Fragen. Wichtig sei letztlich eine offene Atmosphäre an der Schule, an der das Thema Sexualität und sexueller Missbrauch keine Tabus sein dürften. „Bei Befragungen sagen 90 Prozent der Eltern, dass in Schulen und Kitas über sexuellen Missbrauch gesprochen werden soll“, sagt er. „Nur eine kleine Minderheit lehnt dies ab.“

Niedersachsen hat als bisher einziges Bundesland eine unabhängige Anlaufstelle für Opfer und Fragen sexuellen Missbrauchs und Diskriminierung in Schulen und Kitas eingerichtet. Sie berät seit 2012 sowohl betroffene Kinder, Jugendliche und Eltern als auch pädagogische Fachkräfte.

„Kollegium gespalten“

„Ein junger Lehrer hat sich bei uns anonym gemeldet und über einen älteren Kollegen berichtet, der von einer Schülerin des sexuellen Missbrauchs bezichtigt wurde“, erzählt Horst Roselieb, langjähriger Leiter der Anlaufstelle. Es habe ein halbes Jahr gedauert, bis der Lehrer bereit gewesen sei, die Schule zu nennen. „Gegen den beschuldigten Lehrer wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet“, sagt Roselieb und fügt hinzu: „Das Kollegium ist bis heute gespalten – diejenigen, die den Fall öffentlich gemacht haben, gelten bei vielen als Nestbeschmutzer.“

Dorina Kolbe hat in den 70er- und 80er-Jahren selbst sexuelle Gewalt erfahren. Sie sitzt heute im Betroffenenrat, einem Fachgremium beim unabhängigen Bundesbeauftragten. „Damals war es nicht selten, dass Lehrer Schüler schlugen“, sagt sie. „Man kann sich aber jemandem nur in einer angst- und gewaltfreien Atmosphäre anvertrauen. Als ich 13 war, versuchte ich mehrmals, mich einer Sportlehrerin zu offenbaren, doch sie konnte meine Signale nicht erkennen, denn sexueller Missbrauch war damals kein Thema.“ Kolbe zufolge habe sich manches verbessert. „Ein verbindliches Schutzkonzept an jeder Schule wäre ein weiterer positiver Schritt. Wichtig wäre zudem ein Schulfach Medienkompetenz, um das Thema digitale Gewalt aufzugreifen und Schülern zu zeigen, was passieren kann, wenn sie zum Beispiel Nacktaufnahmen von sich verschicken.“

www.kein-raum-fuer-missbrauch.de,www.schule-gegen-sexuelle-gewalt.de, www.hilfeportal-missbrauch.de, www.beauftragter-missbrauch.de

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