40 Jahre taz: Wie alles begann: Die Geburtsstunde der taz

Bevor die erste reguläre taz erschien, produzierten politisch motivierte Amateure Nullnummern. Die erste erschien am 27.9.1978.

Drei Männer in einem Büro mit vielen Zeitungen

Christian Ströbele (Mitte) bei der Produktion der ersten Nullnummer im Jahr 1978 Foto: taz

Etwas Verschwörerisches liegt in der Luft in dem spärlich erleuchteten Ladenlokal in Berlin-Charlottenburg. Es ist kurz nach elf Uhr abends. Um einen großen runden Tisch sitzen ein Dutzend junge Leute und lauschen hochkonzentriert. Auf dem Tisch steht ein Telefon, Max Thomas Mehr hält den Telefonhörer in der Hand.

Seid ihr alle da? Der Apparat ist mit Telefonen in zehn westdeutschen Städten verbunden, mit einer Konferenzschaltung der Deutschen Bundespost. Das Ladenlokal ist der Sitz des Vereins Alternative Tageszeitung e. V. und der Westberliner Initiative für die Gründung einer linken, überregionalen Tageszeitung.

Bei dem nächtlichen Treffen handelt es sich um die erste Redaktionskonferenz für die erste Nullnummer der Zeitung, die es noch nicht gibt. Die Zentralredaktion befindet sich in Frankfurt am Main in einer kahlen Fabriketage, einem Gebäude, in dem auch die Stadtzeitung Pflasterstrand und der Informationsdienst ID arbeiten. Es ist der 19. September 1978.

Aus Berlin kündigt Vera Gaserow an: „Jugendpolitisches Forum, 60 Zeilen; Kinder machen Fotos, 50 Zeilen.“ Nach knapp einer Stunde ist die telefonische Redaktionskonferenz zu Ende.

Zwei Tage haben die taz-Aktivist*innen jetzt Zeit, ihre Artikel zu recherchieren und zu schreiben, anschließend fahren Abgesandte nach Frankfurt am Main, wo eine dreitägige „nationale Redaktionskonferenz“ über Inhalt und Aufmachung des Blattes entscheidet. Jede Kurzmeldung wird kollektiv diskutiert.

Große Freude und Erregung, als die Zeitung am 26. September 1978 aus der Würzburger Druckerei kommt. Doch visuell macht sie nicht sonderlich viel her. Berliner Format, fünf Spalten Text. Konventionelles Layout.

Frühes Medium des Selfiejournalismus

Am 27. September 1978 erschien die erste sogenannte Nullnummer der taz. Es gab noch keine tägliche Ausgabe, aber einen kleinen Vorgeschmack auf das, was die Abonnent*innen der ersten Stunde von der „Tageszeitung“ erwarten können. Die erste Nullnummer können Sie sich hier herunterladen.

In Erinnerung an die allererste taz-Ausgabe haben die taz-Gründer*innen am 26. September das Ruder übernommen und die Printausgabe der taz vom 27. September 2018 produziert. Dieser Text stammt aus unserer Gründer*innen-Sonderausgabe.

Die erste Seite repräsentiert programmatisch die Welt der westdeutschen radikalen Linken Ende der Siebzigerjahre. Im Zentrum Nicaragua, der Kampf der Sandinisten gegen den Diktator Somoza. Links davon die Verhaftung von Astrid Proll, des einstigen RAF-Mitglieds, in London. Darunter radioaktiver Müll im Schwarzwald. Und rechts spontaner Aktivismus, ein Jäger aus Treuchtlingen hatte sich mit geladenem Gewehr einem Konvoi von Nato-Soldaten entgegengestellt, die während eines Manövers in das von ihm gepachtete Gebiet eindringen wollten.

Ganz unten der Bericht über einen spontanen Streik bei der Werft der Howaldtswerke in Hamburg. Das Interview mit dem Generalmusikdirektor der städtischen Bühnen Frankfurt endet mit der Spiegel-Floskel: „Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.“

Zentrales Thema der 1. Nullnummer und der folgenden neun ist der Kampf gegen eine Atomwiederaufarbeitungsanlage und eines Atommüll­endlagers bei Gorleben. In der 1. Nullnummer zwei Seiten „Gorleben. Ein Bericht aus dem Landkreis“. Dabei auch ein Interview mit Rebecca Harms, die 40 Jahre später grüne Europaabgeordnete ist.

Schon die erste Nullnummer weist die taz als frühes Medium des heutigen Selfiejournalismus aus. In den „Reisenotizen aus Portugal“ des Frankfurter taz-Aktivisten Hannes Winter aus Frankfurt heißt es: „Während ich dies und anderes beobachte und aufschreibe, im Vorgärtchen des Ferienhauses, krabbeln Ameisen über Schreibmaschine und Papier.“

Vergebliche Versuche

Wo standen wir politisch, als wir uns dranmachten, eine Tageszeitung zu gründen? Eine Antwort versuchten Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR zu geben.

In „Zusammengefassten Hinweisen“ der Abteilung XXII des MfS vom 6. Juni 1981 „zum antikommunistischen Presseerzeugnis der BRD/Westberlin“ heißt es, dass es im „Anhängerpotential“ sehr gegensätzliche Auffassungen gebe; zwischen „gewaltsame Aktionen befürwortenden bzw. durchführenden Kräften, insbesondere anarchistisch orientierten sogenannten Gewaltspontis und Sympathisanten anarcho-terroristischer Organisationen und Gruppen sowie Vertretern der undogmatischen ‚Neuen Linken‘, welche terroristische Aktivitäten ablehnen und eine alternative und pluralistische Sammlungsbewegung mit parlamentarischem Anstrich anstreben (z. B. im Rahmen der Alternativen Liste Westberlin).“

Viele glauben, dass die Idee der taz auf dem Tunix-Kongress Januar 1978 in Westberlin geboren worden sei, doch das ist falsch. Schon 1976 hatte eine Runde um den Rechtsanwalt Christian Ströbele und den Buchhändler Max Thomas Mehr die Gründung einer linken Tageszeitung debattiert. Zur selben Zeit versuchten in Frankfurt spätere taz-Mitbegründer vergeblich, die Macher*innen des wöchentlichen ID für die Idee zu gewinnen.

Joachim sah aus, als würde er jeden Moment losheulen. Andere wirkten eher wie zwei Tage Dünnbier und Lebertran

Im November 1977 hatte die Berliner Initiative einen Aufruf verfasst. Eingangs wird Bertolt Brecht zitiert. „Herr Keuner begegnete Herrn Wirr, dem Kämpfer gegen die Zeitungen. Ich bin ein großer Gegner der Zeitungen’, sagte Wirr. ‚Ich will keine Zeitungen!‘ Herr Keuner sagte: ‚Ich bin ein größerer Gegner der Zeitungen: ich will andere Zeitungen!‘“

Seismograf des alternativen Milieus

Wie sollte die andere Zeitung aussehen? Parteilich? Objektiv? Ein „Hetzblatt mit Körpersprache“, wie es Arno Widmann plakativ formuliert hatte. Ein Nachrichtenblatt? Ein Seismograf des alternativen Milieus? Es ging alles durcheinander. Und als die erste Nullnummer erschien, war noch nicht mal geklärt, ab wann „das unbekannte Objekt unserer Begierde“, so der Titel eines Readers mit Diskussionspapieren, täglich erscheinen und wo es produziert werden sollte.

Die Stunde der Wahrheit schlug am Sonntag, den 18. Dezember 1978 gegen zwei Uhr nachmittags in der Evangelischen Studentengemeinde in Frankfurt, beim „Nationalen Treffen“ der taz-Initiativen. Zunächst stimmten 73 dafür, dass die Zeitung ab April 1979 täglich beziehungsweise fünfmal die Woche erscheinen sollte. Um die Frage, wo die Zeitung produziert werden sollte, wo also ihre „Zentralredaktion“ hinkäme, wurde härter gerungen.

Christian Ströbele, der spätere Geschäftsführer Kalle Ruch und andere Berliner erklärten, nur mit den in Westberlin verfügbaren Subventionen und Steuerabschreibmöglichkeiten ließe sich das Blatt längerfristig finanzieren. In Westberlin wäre das rund 30.000 Mark billiger im Monat als in Frankfurt. Aber sprechen das Frontstadtklima und die Insellage in der surrealen Mauerstadt nicht gegen Berlin als Standort?

Umgekehrt: Sind die Frankfurter nicht zu abgehoben und ignorant gegenüber den sozialen Bewegungen und basisdemokratischer Organisation? Schließlich gingen 43 Arme hoch für Berlin, 30 für Frankfurt. Es gab Wut und Tränen bei Unterlegenen.

Schonungsloser Erfahrungsbericht

Der Spiegel-Redakteur Mettke hatte im August 1978 für das Nachrichtenmagazin einen Artikel mit dem Titel: „Unterbliebene Nachrichten“ geschrieben, in dem er uns freundlich als Amateure belächelte: „Mit Blattmache im herkömmlichen Sinn hat das, was sich in einem angemieteten Laden in der Berliner Suarezstraße 41 abspielt, wenig zu tun.“ Die „zwanzigköpfige Ströbele-Truppe“ rücke einfach „bei schönem Wetter Tisch und Stühle vor die Tür und debattiert auf dem Trottoir über Drucktechnik und Geldquellen immer feste drauflos“.

Zu diesem Zeitpunkt hatte das Kind noch keinen Namen. Es kursierten Listen mit Vorschlägen wie „Unter dem Pflaster“, „Sumpfblüte“, „Republikanischer Landesbote“, auch ein Preisausschreiben unter den künftigen Lesern hatte keine überzeugende Idee gebracht. Schließlich setzte sich Christian Ströbele durch, mit dem nichts- und zugleich vielsagenden Namen „die tageszeitung“.

Beobachtern des Kleingedruckten fiel in der 4. Nullnummer etwas auf. Als Herausgeber firmierten jetzt: Freunde der alternativen tageszeitung, Wattstraße 11/12, 1000 Berlin 65. Sie wurde nun in den Räumen produziert, in denen die taz dann gute zehn Jahre arbeiten sollte.

Zunächst gab es zwar erst drei Telefone für alle, aber irgendwie klappte es doch. Johannes Beck, gerade mal 18 Jahre alt, aus Frankfurt angereister Layouter, klagte in einem schonungslosen Erfahrungsbericht: „Berlin, die große Fertigmache, die Akkumulation von Sachzwängen.“ Zum Zustand der Belegschaft nach Produktionsschluss bemerkte er: „Dieter hat wohl noch nie so große Augen gehabt, und Joachim sah aus, als würde er jeden Moment losheulen. Andere wirkten eher wie zwei Tage Dünnbier und Lebertran.“ Die Produktion der taz-Nullnummern war streckenweise ein kollektiver Psychotrip.

Minimalistisches Layout

Was in der Zeitung stehen sollte und was nicht, war in den Monaten der Nullnummerproduktion heiß umstritten – wie sie aussehen sollte, weniger. Der Inhalt war wichtig, nicht die Form. Kunst stand ohnehin unter dem Verdacht der Bürgerlichkeit oder des Elitären, Unpolitischen.

Dennoch kam es bei der 6. Nullnummer zu einer grafischen Revolution, für die vor allem Joachim Schmid verantwortlich war. Der junge Mann mit der Jimi-Hendrix-Matte hatte in Schwäbisch-Gmünd Grafikdesign studiert, war 1977 an die Hochschule der Künste nach Westberlin gewechselt und ließ sich beim Tunix-Kongress von der Idee einer linken Tageszeitung begeistern.

Zusammen mit Johannes Beck und anderen Frankfurtern, die keine Vorbildung in Sachen Gestaltung hatten, klebte er die erste Nummer zusammen. Schmids Credo: „Keine visuelle Trennung zwischen Nachrichten und Magazin, zwischen Bericht und Kommentar.“ Er begreife sich als Layouter, nicht als jemand, „der eure verbalen Ergüsse in irgendeine lesbare Form bringt, an der Oberfläche Kosmetik betreibt, sondern als jemand, der die politische Konzeption in der taz in einem begründeten System visualisieren will.“

Sein ehemaliger Professor, Michael Klar aus Schwäbisch-Gmünd, entwickelte mit Studierenden ein ungewohntes Layout: minimalistisch. Nur drei Schriftgrößen, alles einspaltig. Schmid sagt heute: „Ich wollte die Texte in der Zeitung enthierarchisieren. Nichts Marktschreierisches mehr. Eine radikale visuelle Alternative zur Bild-Zeitung.“

Ein Anruf von Heinrich Böll

Dass die Mehrheit in der taz das „Schwäbisch-Gmünder Layout“ zwar nicht mochte, aber damit einverstanden war, es auszuprobieren, zeigt eine große Stärke der frühen taz, ihre große Offenheit für Experimente.

Doch schon in der 7. Nullnummer wurde das puristische Layout-Konzept verwässert und demontiert. In der 9. Nullnummer war es verschwunden. Joachim Schmid hörte bei der taz auf, er wollte nicht unter dem strikten Rhythmus der täglichen Produktion arbeiten. Bald erschien eine Anzeige: „Die taz sucht noch qualifizierte Metteure, die Interesse an unserem Projekt haben. Keine Künstler, sondern Handwerker.“

Die taz und die Kultur: Im März 1979 rief Heinrich Böll im Büro von Christian Ströbele an. Der hatte ihn in einem Brief um Unterstützung gebeten und zur Mitarbeit aufgefordert. Böll möchte ein paar Nullnummer zugeschickt bekommen, damit er weiß, worum es sich handelt. Mit Datum vom 4. April 1979 schreibt er an Ströbele. „Ich will Ihnen offen erklären, daß ich im Augenblick – jedenfalls für die kommenden Monate – weder in der Lage bin, finanziell zu unterstützen noch als möglicher Mitarbeiter.

Nach verschiedenen, sehr turbulenten Steuerprüfungen – es waren einige in den vergangenen Jahren – ist meine gesamte finanzielle Situation derart verwirrt und verwirrend, daß ich im Augenblick gar nicht weiß, über was ich noch verfügen kann. Es wird noch einige Zeit dauern, bis ich Überblick habe, und ich werde mich dann möglicherweise wieder an Sie wenden. Im Augenblick muß ich Sie bitten, Geduld zu haben. Ich überschaue meine Situation nicht – und nicht nur die finanzielle.“

Ein politisches Projekt

In der 1. Nullnummer waren die Adressen von 13 taz-Initiativen aufgelistet, in der 10. Nullnummer fünf taz-Redaktionen, in Berlin, Frankfurt, Hannover, Köln und Stuttgart, sowie von 25 Ini­tia­tiven, von Kiel bis Lörrach.

Am 16. April 1979 produzierten wir in der Wattstraße in Berlin-Wedding die erste reguläre Ausgabe der tageszeitung. Die heutige Ausgabe trägt die Nummer 11742.

Rund ein Drittel der Gründergeneration der taz haben nicht länger für die Zeitung gearbeitet, für sie war die taz ein politisches Projekt. Oder sie wollten nicht nach Berlin ziehen. Von den sechs professionellen Journalisten, die ganz am Anfang dabei waren, arbeitete dann nur einer, Martin Kempe, in der taz. Die anderen trauten uns Chaoten nicht zu, wirklich eine Zeitung auf die Beine zu stellen – und blieben bei den „bürgerlichen Medien.“

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