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Für ein besseres Europa

Das Festival „Sehnsucht Europa“ befasst sich unter dem Eindruck neuer und alter Migration auf rund 30 Veranstaltungen mit dem europäischen Miteinander

Auf der Suche nach einer gemeinsamen Sprache: die transkulturelle Choreografie „Audition for Life/Art“ Foto: Marianne Menke

Von Jan-Paul Koopmann

Wer eine Ahnung davon hat, wie lange professionelle künstlerische Produktionen vom ersten Brainstorming bis auf die Bühne brauchen, kennt brereits eine Schwierigkeit des Festivals „Sehnsucht Europa“. Denn wer 2015 beginnt, an einem Programm über das transkulturelle Zusammenleben in Europa zu stricken, findet sich mit dem Resultat heute in einer völlig anderen Welt wieder. Ganz Deutschland – so schien es damals kurz – stand mit Süßigkeiten, Spielzeug und Klamotten am Bahnhof, um die Fremden willkommen zu heißen. Heute werden zunehmend jene lauter, die sie im Mittelmeer ersaufen sehen wollen. Und das wortwörtlich, in genau dieser verrohten Mördersprache. Der kurze Sommer der guten Deutschen ist lange vorbei, „Sehnsucht Europa“ findet trotzdem statt.

Und das umso entschiedener. Wenn etwa Renate Heitmann, Leiterin der Shakespeare Company und Mit-Initiatorin des Festivals sagt, das Miteinander solle sich orientieren an „Gefühlen und Intuition“, dann spricht das doch von einigem Selbstbewusstsein an der Stelle, wo andere vor den vorherrenschenden Emotionen eher in Deckung gehen. Auch Helge Letonja vom Steptext Dance Project sieht sich mit seinem Anteil am Festival nicht in der Defensive. Kunst müsse gerade jetzt zeigen, dass Miteinander auf Augenhöhe geht – und niemanden erziehen müsse. Beide haben „Sehnsucht Europa“ zusammen mit dem Kulturhaus Walle und der Quartier gGmbH an den Start gebracht.

Die Uraufführung „Audition for Life/Art“, die Letonja und Mokhallad Rasem gemeinsam mit dem Ensemble New Bremen erarbeitet haben, steht dann auch inhaltlich für diesen programmatischen Ansatz: Acht Tänzer*innen und Schauspieler*innen aus unterschiedlichsten Ländern konfrontieren einander tänzerisch mit ihren jeweiligen kulturellen Codes und suchen nach einer neuen gemeinsamen (Körper-)Sprache. Nach der Uraufführung wird sich das international besetzte Stück auf den Weg nach Belgien machen, um in Antwerpen als „Botschafter Bremens“ getanzt zu werden, wie Helge Letonja sagt.

Zugegeben: Dieses Miteinander spielt auf einem hohen Abstraktionsgrad – man kann durchaus gespannt sein, wie es in der veränderten Gesellschaft ankommt. Die Komplexität ist gewollt. Man hat sogar Professor Günther Heeg eingeladen, um auf dem laufenden Festival in der Theorie über „die Idee eines transkulturellen Theaters“ zu referieren.

Für die Bürger*innennähe ist Nadine Portillo zuständig: Sie lässt zwölf Menschen über 90 Minuten in einem Container spielen, auf engstem Raum also, und sich unmittelbar auf der persönlichen Ebene mit der Frage beschäftigen: „Was bedeutet dir Solidarität?“ Dieses Projekt namens „#Zärtliches Europa“ basiert auf einer Umfrage unter 150 Bremer*innen. Zwischen der Innenschau mit Körperkontakt und getanzter Abstraktion entfaltet sich die Bandbreite der rund 30 Veranstaltungen.

Es ist Stärke und Schwäche zugleich, dass sich das Festival nicht mit den Mordlustigen aufhält

Übrigens handeln die längst nicht alle nur von aktuellen Fluchtbewegungen, sondern schauen auch historisch auf die Kontinuitäten und Normalität von Migration und (künstlerischem) Miteinander. Ein Hochkaräter ist das international gefeierte Tanztheater aus dem indischen Mumbai: „Amaara – A Journey of Love“. Aber auch die Philharmoniker sind dabei, diverse Jugendgruppen mit Präsentationen von Rap bis Poetry Slam.

Es ist wohl Stärke und Schwäche des Festivals zugleich, seine Zeit nicht ausdrücklich mit den Dumpfen, Mordlustigen und Nationalen zu verschwenden. Nur so gibt es ein Programm, dass die Fremden und das Fremde ernst nimmt und mehr daraus macht als anzuleitende Objekte. Der Preis dafür ist das Risiko einer Schieflage in der künstlerischen Darstellung hässlicher gesellschaftlicher Realität.

Immerhin hat das Programm das Potenzial, seine eigene Prämisse mindestens für ein paar Stunden wahr zu machen. Dann nämlich, wenn die Produktionen zünden und ein Miteinander auf die Bühnen bringen, das Lust macht auf mehr. Und beim Blick ins Programm muss man zugeben: Die Chancen dafür stehen ziemlich gut.

Sa, 1. bis So, 9. 9., Termine und Orte der Veranstaltungen auf: www.sehnsuchteuropa.de

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