: Blick auf die eigene Schuld
Rotenburger Anstalten diskutieren Geschichte
Am Donnerstag ist der Tag einer großen Aussprache in Rotenburg. Am Abend werden ehemalige Patient*innen – oder sollte man sagen: Insass*innen? – der Rotenburger Werke der Inneren Mission eine Bühne bekommen. Und zwar in den Anstalten selbst, zusammen mit den Historiker*innen ihrer Leidensgeschichte und den Nachfolger*innen ihrer einstigen Peiniger, vor Publikum. Es wird ein wichtiger Abend werden.
Wenn es in diesem Frühjahr in Norddeutschland eine regionalhistorisch sensationelle Erkenntnis gab, dann die über die Verbrechen, die von 1945 bis in die 1980er-Jahre von den Rotenburger Anstalten an ihren Schutzbefohlenen verübt wurden. Im Auftrag der Inneren Mission selbst haben die Historiker*innen Karsten Wilke, Hans Werner Schmuhl, Sylvia Wagner und Ulrike Winkler diesen Zeitraum untersucht und dabei Belege für schikanöse Behandlungen, systematische Körperverletzungen durch Arzneimitteltests, Zwangsmedikationen und die Durchführung von Operationen mit Strafcharakter zutage gefördert. Ihr im Juni veröffentlichtes Buch „Hinter dem Grünen Tor“ erlebt jetzt schon die zweite Auflage. Darin rekonstruieren sie die Taten von Ärzten und Pflegepersonal – und geben Hinweise darauf, was sie ermöglicht hat.
Eine der Ursachen liegt demnach im unzureichenden Umgang mit der eigenen Verstrickung in Euthanasie-Verbrechen der Nazis. Denn, klar, kurz nach Ende des Nazi-Regimes hatte es auch in der evangelischen Kirche eine Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld gegeben. Sie berührte auch die Rotenburger Anstalten. Doch wenn dort die Schuldfrage diskutiert wurde, dann „nicht im Konkreten, sondern in einer allgemeinen theologisch-philosophischen Form“, heißt es in „Hinter dem Grünen Tor“. Damit schuf man sich eine Basis für neue Taten: Wer vergangenes Unrecht nicht erkennt, wird sich keine Maximen machen um eine Wiederholung zu vermeiden. Und so glaubte man sich befugt, den als behindert klassifizierten Bewohner*innen bei Renitenz die Hirnlappen zu beschneiden und an ihnen zu erkunden, ob Psychopharmaka Bettnässen stoppen.
Gut, dass die Anstalten den Opfern nun noch einmal eine Bühne bereiten, mit Publikum. Denn erst das kann ja jene Gesellschaft – also uns, die Normalen – repräsentieren, die die Anstaltsbewohner*innen als Zumutung betrachtete und lieber ganz aus dem Gesichtsfeld verbannt hätte. Und die selbstverständlich für sich in Anspruch nahm, deren Weihnachtsmarktbummel erst einmal polizeilich genehmigen zu lassen. Zur Aussöhnung mit den Tätern im engeren Sinn wird es hingegen nicht mehr kommen. Die von den Firmen Sandoz, Schering, Merck finanziell gratifizierten verantwortlichen Ärzte sind früh gestorben. Ausnahmslos, wie es scheint.
Benno Schirrmeister
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