Mikrokosmos Hundewiese: Haste mal ’ne Kacktüte?

Wer sich einen Hund anschafft, lernt eine Parallelwelt kennen – zum Beispiel die hinter dem Planetarium in Prenzlauer Berg.

Ein Hund liegt auf einer Wiese und hechelt

Die Gespräche auf der Hundewiese drehen sich um Fellpflege und das richtige Futter Foto: Nikita Teryoshin

Enzo ist der König der Hundewiese. Er thront auf einem Klappstuhl unter der Trauerweide, im Schatten. Enzo ist immer da, und er sagt Dinge wie: Da kommen schon die Raben, die fliegen auf dem Rücken, um das Elend nicht zu sehen. Enzo war mal Schauspieler, jetzt ist er Rentner, und er weiß, wann Aldi Spülschwämme im Angebot hat. Manchmal bringt ihm jemand selbst gemachte Marmelade mit oder Kirschen aus dem eigenen Garten. Alle mögen Enzo, aber die Hunde liegen ihm zu Füßen. Wer Wurst dabeihat, ist hier klar im Vorteil.

Nur 14 Minuten Fußweg liegen zwischen dem Helmholtzplatz und der Hundewiese im Ernst-Thälmann-Park. Man könnte auch sagen: Welten. Obwohl beide Orte zum Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg gehören, könnten sie unterschiedlicher kaum sein. Auf der einen Seite sanierte Altbauwohnungen, hippe Cafés und eine vegane Metzgerei, 1,2 Kilometer südöstlich Plattenbauten, eine Sportsbar und ein Backshop, vor dem mittags Postbotinnen Kaffee trinken und rauchen. Aber eben auch: Natur. Und wenn es eines gibt, das Hunde beinahe noch lieber mögen als Wurst, dann das.

Mehr als die Hälfte der Fläche des Ernst-Thälmann-Parks besteht aus Park- und Grünflächen, der Rest ist bebaut. Während Großsiedlungen in der DDR normalerweise an den Stadtrand verbannt wurden, sollte das Prestigeprojekt zu Ehren des Arbeiterführers Anfang der 80er nicht nur dringend benötigten Wohnraum in der Innenstadt schaffen, sondern ihn auch mit Grünflächen, einer Schwimmhalle, einem künstlichen Teich, einer Kindertagesstätte und Geschäften verbinden.

In nur drei Jahren entstanden auf dem 25 Hektar großen Gelände 1.332 Wohnungen für 4.000 Menschen, je Bewohner wurde ein Baum gepflanzt. In einem Video sieht man den damaligen Regierungschef Erich Honecker, wie er 1985, ein Jahr vor Fertigstellung, den Park besucht. Vor einer bereits bewohnten Platte ruft er nach oben: Na, sind die Wohnungen auch gut? Ein Mann am geöffneten Fenster winkt und lacht: Einwandfrei! Neben ihm strahlt seine Frau.

Hinterm Planetarium geht's weiter

Von alldem habe ich allerdings keine Ahnung, als ich zum ersten Mal auf der Hundewiese stehe. Ich sehe nur achtgeschossige, graue Plattenbauten, schräg gegenüber recken sich zwei Hochhäuser in den Himmel, eines hat 15 Stockwerke, das andere 18. Alle paar Minuten durchquert ein Flugzeug den Himmel und nimmt Kurs auf eines der ockerfarbenen Gebäude, aber immer wenn es so aussieht, als flöge es hinein, verschwindet es dahinter.

Da ich weder regelmäßig eine Kita aufsuche noch ins Hallenbad gehe oder mich im Park in die Sonne lege, war der Ernst-Thälmann-Park für mich bis vor Kurzem nicht viel mehr als die von Bäumen umsäumte silberne Kuppel an der Prenzlauer Allee. Erst seit ich einen Hund habe, weiß ich: Hinterm Planetarium geht’s weiter, und zwar noch ein ganzes Stück.

Die Hunde wälzen sich grunzend auf dem Rücken, die Menschen halten sich zurück, wie Menschen es eben so tun

Die anderen Hunde heißen Lilo, Trubel, Al Capone, Perle, Donkey, Kika, Heidi, Hazel und Hilde, es gibt eine Hedda und einen Bushido. Die Besitzer heißen – egal, jedenfalls in den ersten Wochen. So viele Namen kann sich sowieso kein Mensch merken. Am Anfang fragt auch niemand. Nur: Wie heißt deiner? Und deiner? Das Beschnuppern übernehmen die Hunde, der Mensch am anderen Ende der Leine ist ausnahmsweise mal bloß Statist. Für den Moment genügt die Gewissheit, dass alle aus dem gleichen Grund hier sind. Verantwortung für ein Lebewesen zu übernehmen verbindet.

Auch über ein Thema, bei dem die Meinungen in Deutschland auseinandergehen, herrscht hier Einigkeit: Jedes Leben ist es wert, gerettet zu werden. Die meisten Hunde lebten vorher auf der Straße oder im Zwinger, in Rumänien, Griechenland, Spanien oder Russland, und trotzdem sprechen alle die gleiche Sprache. Mindestens einmal am Tag muss ich die Geschichte erzählen, wie mein jetziger Hund in Thailand auf die Terrasse spazierte und einfach blieb, zwei Wochen lang. Bis der nächste kommt und fragt: Und was ist das für eine lustige Mischung? Da ist doch ein Shar-Pei drin! Woraufhin ich vage nicke, lächle und auf dem Heimweg „Shar-Pei“ google, damit ich morgen wieder ein bisschen mehr weiß.

Das Ziel: fachsimpeln. Dominanzgehabe, Leinenführigkeit, T-Stellung. Wofür hat man denn sonst all die Bücher gelesen?

In der Realität laufen die Gespräche anders. Hast du mal ’ne Kacktüte? Darf deiner ein Leckerli? Will noch jemand ein Bier? Und: Ich bring dir morgen den Furminator mit, der hilft total gegen die Unterwolle.

Aber auch: Kann dein Hund eigentlich noch was anderes außer fressen? Fütter ihn doch, bis er platzt!

Beweisen können die gar nichts

Der Ton ist manchmal rauer auf der Hundewiese, die eigentlich gar keine ist, jedenfalls nicht offiziell. Manchmal, erzählt Enzo, hüpft das Ordnungsamt aus dem Gebüsch, also nicht das Gebäude, das sich in der Nachbarschaft befindet, sondern zwei Menschen in viel zu warmen Uniformen. Warum denn der Hund nicht angeleint sei, fragen sie, ganz unschuldig, und dann verhängen sie eine Geldstrafe. Die Höhe variiert, sagt Enzo, je nach Entgegenkommen. Dabei sei das doch absurd: Im Park gebe es Leinenpflicht, aber auf der Straße, da dürfen die Hunde frei he­rum­laufen. Wobei auch das bald vorbei ist, das Gesetz ist schon verabschiedet.

Wenn das Ordnungsamt kommt, sagen die anderen, hilft nur rennen. Die sind zu zweit, wir sind viele

Es gibt natürlich Menschen, die es nicht so toll finden, dass die Hunde ohne Leine durch den Park rennen. Aber während das an anderen Orten Berlins zum Streit führt, ist der Ernst-Thälmann-Park groß genug für viele unterschiedliche Reviere und Interessen.

Wenn das Ordnungsamt kommt, sagen die anderen, hilft nur rennen. Die sind zu zweit, wir sind viele. Und beweisen können die gar nichts, wenn wir mal weg sind. Auf dem einzigen offiziellen Hundeauslaufplatz in Prenzlauer Berg, einem umzäunten Gebiet am Mauerpark, sei die Stimmung aggressiv, sowohl seitens der Besitzer als auch der Hunde. Dann lieber hier, illegal.

Auch im benachbarten Kollwitzkiez auf dem Plateau am Wasserturm, wo ich einmal zufällig vorbeikomme, lassen die Leute ihre Hunde frei laufen. Es sei ja ein offensichtliches Problem, dass es in der Umgebung kaum eine andere Möglichkeit gibt, erzählt ein Hundebesitzer, und wer habe schon Zeit, jeden Tag in den Grunewald zu fahren, damit der Hund mal so richtig rennen kann? Deshalb habe man sich mit den Anwohnern und dem Ordnungsamt auf eine friedliche Koexistenz geeinigt, natürlich höchst inoffiziell: mittags die Hunde, abends die Menschen auf ihren Picknickdecken. Nur ein Nachbar greife jedes Mal zum Telefon, sobald einer bellt. Und dann? Er lacht. Wenn die Beamten kommen, nimmt man seinen Hund an die Leine, sie sagen: „Sehr schön, dann ist ja alles gut“, und dann gehen sie wieder.

Im Mai ist die Wiese gesprenkelt mit Gänseblümchen, Löwenzahn und Sonnenflecken. Die Hunde lassen sich vor Vergnügen alle paar Meter fallen und wälzen sich grunzend auf dem Rücken, die Menschen halten sich zurück, wie Menschen es eben so tun. Nur zwei junge Männer huldigen der Abendsonne, sie ziehen ihre T-Shirts und Schuhe aus und tanzen ekstatisch zu wummernden Bässen, ihre Arme schlenkern im Wind.

Die Hunde verbellen den Eindringling

Nach vier Wochen glühender Hitze ist die Wiese keine Wiese mehr, sondern Steppe. Das ehemals saftige Grün ist binnen ein paar Tagen verblasst, die weichen Halme sind struppig geworden wie alte Besen. Sitzen tut jetzt weh, und dann sind da noch die Mücken und Erdwespen und Ameisen. Die Einzigen, die wissen, wie man sich die Natur zunutze macht, sind die Hunde. Sie buddeln Löcher, legen sich hinein und lassen sich von der Erde kühlen. Diejenigen, die nicht wasserscheu sind, springen in den Brunnen oder den Teich. Über ihre rosa Zungen läuft Speichel auf den Schatten unter der Weide, der Wassernapf ist heiß begehrt. Besonders wenn ein Fremdhund die Frechheit besitzt, sich daran zu bedienen.

Mittlerweile kennt man sich besser. Man weiß jetzt auch, wie die Menschen heißen, aber seither ist es kompliziert: Welcher Hund gehört noch mal zu wem? Es hilft, sich eine Liste anzulegen. Die Gespräche drehen sich um Zughalsbänder, Fellpflege und das richtige Futter. Pferdeäpfel sorgen für Glanz, sind nur schwer zu bekommen in Berlin. Ein rohes Ei pro Woche tut’s aber auch. Oder Kokosöl. Und alle barfen natürlich – füttern ihre Hunde also mit „biologisch artgerechtem rohem Futter“. Selbst die Veganer.

Die Besitzer heißen – egal. Es genügt die Gewissheit, dass alle aus dem gleichen Grund hier sind

Ansonsten sitzt man so rum. Irgendjemand ist immer da, im Zweifel Enzo. Was er an Sitzfleisch mitbringt, macht sein Hund an Ausdauer wieder wett, der jagt Bälle, als gelte es, einen Pokal zu gewinnen. Hinter ihm staubt die Steppe.

Gemäht werden muss trotzdem. Jemand steuert eine Maschine in Schleifen über die Wiese, er umkreist die Trauerweide in immer engeren Bahnen. Die Hunde tun, was sie auch tun, wenn der Druffi mit seinem Longboard vorbeikommt: Sie verbellen den Eindringling, aber der schert sich nicht darum. Die Maschine speit in hohem Bogen Gras auf die Decke eines Paares, woraufhin sie aufspringt und schimpft: Ey, wir wollten hier in Ruhe frühstücken! Das Essen können wir jetzt wegschmeißen, vielen Dank auch. Enzo lacht. Was wollen die denn – dass die Stadt sich nach ihren Frühstückszeiten richtet? Komm, wir gehen zum Backshop, eine Bockwurst essen.

Wohnungsnot

Dort treffen wir Chiara. Sie war gestern bei einer Wohnungsbesichtigung, „mitten in Prenzlauer Berg“, zusammen mit 50 anderen. Nach dem Gedränge könne sie nicht mal sagen, wie die Wohnung eigentlich aussieht, und dann der Preis: 40 Quadratmeter für 700 Euro warm, ein Zimmer, kein Balkon. Aber wahrscheinlich war irgendwo Stuck an der Decke. Sie überlegt trotzdem, ob sie sich darum bewirbt, seit Monaten ist sie auf der Suche. Ihr Hund legt den Kopf auf den Asphalt und röchelt.

Bei der Konzipierung des Ernst-Thälmann-Parks hatte der federführende Architekt Helmut Stingl auf Schnickschnack und Pomp verzichtet, um die akute Wohnungsnot zu lindern. Dass es ihm nicht ums Aussehen ging, wird schnell deutlich, wenn man die graue Häuserfront aus dem Baukasten betrachtet, Reihe WBS 70, Wohnungsbauserie 70. Andererseits: Da drin wohnen und nach draußen ins Grüne schauen, ist das so schlecht?

Vor dem Container mitten auf der Wiese, in dem das Gras binnen Stunden von der Sonne zu Heu gebrannt wird, wirft sich ein junger Kerl in asymmetrischer Kleidung in Pose, eine Frau schießt Fotos. Vielleicht wird eins davon später in einer Modezeitschrift abgedruckt; und die Leserin wird beim Betrachten ein Ziehen in der Bauchgegend verspüren, weil sich hier Hässlichkeit und Schönheit aufs Vorzüglichste vereinen: blauer Container, gelbe Wiesen, blauer Himmel, ockerfarbene Plattenbauten, also da hat sich wirklich jemand was dabei gedacht. Ein idealer Hintergrund für Mode.

Nur dass hier in echt niemand so rumläuft. Wird ja alles schmutzig.

Die Zigarette riecht nach Hund

Auch ich habe längst kapituliert. Ich trage zwar noch keinen Leckerlibeutel am Gürtel, aber nur noch waschbare Flipflops. Jede Woche neue Espadrilles zu kaufen ist zu teuer, der Hund muss schließlich essen. Dazu gehört auch: Menschenhaut abschlecken. Salz ist wichtig bei diesen Temperaturen. Die Hände und Füße leiden am meisten, man sitzt auf dem Gras, streichelt Hunde, hat Dreckpfoten und die Feuchttücher vergessen, egal. Zigarette drehen geht trotzdem; sie schmeckt säuerlich-bitter und riecht nach Hund. Wenn die Filterpackung raschelt, drehen alle Hunde wie auf Kommando den Kopf. Könnte ja sein, dass es was zu fressen gibt.

Die Hunde betteln immer, alle. Kommt ein neuer Hund auf die Wiese, rennen die anderen los. Darf der überhaupt hier sein? Sie schnüffeln am Hintern des Neuen und an seinen Ohren, bilden einen Kreis. Bleibt der Neue angesichts dieser Inspektion unbeeindruckt und zeigt damit, dass er lässiger ist als sie alle zusammen, wird er huldvoll ins Rudel aufgenommen und zum Spielpartner befördert. Wenn er Glück hat, wirft sich sogar einer auf den Rücken und überlässt ihm das Feld. Ansonsten bleibt ihm nur, sich mit eingezogenem Schwanz zu trollen. Versucht er es wieder, wird er gemobbt. Zu zweit, zu dritt, zu viert. Da sind die Hunde gnadenlos.

Unterwerfung, Dominanz, Revier. Von Hunden lernen heißt sich behaupten lernen. Die eigene Körpersprache überdenken, klare Ansagen machen. Und: Entscheidungen treffen. Dass die nicht immer allen gefallen, war hier schon immer so. Wo heute der Park ist, stand mehr als hundert Jahre lang die IV. Berliner Gasanstalt, eines von 33 Berliner Gaswerken. Nach der Stilllegung 1981 wurden die drei Gasometer gesprengt, der letzte am 28. Juli 1984, unter Protest der Anwohner. Schaut man sich Fotos von damals an, versteht man, warum: Die mächtigen runden Gebäude mit den verzierten Kuppeln standen nicht umsonst unter Denkmalschutz. Hat nur keinen interessiert, jedenfalls nicht diejenigen, die das Sagen hatten.

Manchmal versuchen die Hunde auch, einen der Windhunde zu jagen, die angeberisch in großen Kreisen über die Wiese sausen. Bis der Jäger plötzlich verschwindet, weil er in eins der Löcher getreten ist, die er vorher selbst gebuddelt hat. „Wissen Sie, wie lange das dauert, bis wir die wieder zugeschüttet haben?“ Der ältere Mann ist von der Anwohnerinitiative des Parks, zweimal im Jahr treffen sich Freiwillige, um die Wiese wieder unfallsicher zu machen. „Es soll sich ja keiner ein Bein brechen, weder Mensch noch Tier!“, sagt er und geht Richtung Hochhäuser. Auf dem Wägelchen, das er hinter sich herzieht, hockt sein Hund.

Und dann sitzen alle im Halbkreis, und Enzo sagt: Ich würd’ meine Omma verkaufen, wenn ich wüsste, was die denken!, und die Hunde sitzen daneben und tun so, als würden sie nicht zuhören.

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