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Hier kommt jeder dran

Tagtäglich, rund um die Uhr kümmern sich ÄrztInnen und PflegerInnen in den Notaufnahmen um Patienten. Doch wie triftig sind die Gründe hierherzukommen tatsächlich? Ein Besuch in einer Rettungsstelle

Aus Berlin Frederik Eikmanns

Die Glocke schrillt und Susanne Schmidt eilt in Richtung der breiten Eingangstür. „Ist das ’ne Feuerwehr?“ fragt die Krankenschwester laut und meint damit einen Rettungswagen. Nein, ist es nicht, wie sich herausstellt: Kein Blaulicht, kein Martinshorn, nur ein Krankentransport hat draußen gehalten.

Nach einer Minute schieben zwei Sanitäter eine alte Frau im Rollstuhl herein. Sie spricht kein deutsch und ist außerdem dement. „Dann verständigen wir uns halt mit Händen und Füßen“, meint Schmidt, während Sanitäter die Patientin auf eine Liege hieven. Eine Hand baumelt schlaf an der Seite herunter, als die Frau weggeschoben wird.

Schmidt, 54, blond, die Brille im Haar, leitet als Krankenpflegerin die Rettungsstelle am Sankt-Gertrauden-Krankenhaus im Südwesten Berlin. In der Klinik stehen rund 400 Betten auf 15 Fachabteilungen bereit. Und dann gibt es da eben noch die Notaufnahme. Die ist Schmidts Reich, 29 Jahre arbeitet sie hier schon. Resolut spricht sie mit Patienten und Personal, einer Ärztin, die an ihr vorbei hastet ruft Schmidt „Hopp, hopp“ hinterher und lacht.

24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr ist die Notaufnahme geöffnet. Hier, wie in den anderen bundesweit rund 1.700 Rettungsstellen, wird jeder behandelt, der kommt.

Aber nicht jeder gehört auch tatsächlich in die Notaufnahme. So sieht das zumindest Andreas Gassen, der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Viele Patienten mit leichten Beschwerden sollten sich besser erst an einen niedergelassenen Arzt wenden, bevor sie ins Krankenhaus gehen, findet er. Eine Studie der Techniker Krankenkasse vom Februar scheint ihm Recht zu geben. Laut dieser befinden sich vier von zehn Patienten nicht in einer echten Notsituation, wenn sie in die Rettungsstellen kommen. Gassen schlug daher Mitte Juli vor, eine Gebühr von 50 Euro zu verlangen, wenn Patienten ohne triftigen Grund in die Rettungsstellen kommen. Es folgte ein öffentlicher Aufschrei, die Grünen warnten vor Eintrittsgeldern, die SPD davor, dass Patienten bestraft würden. Inzwischen hat Gassen den Vorschlag wieder zurückgezogen.

War das ein Fehler? Immerhin sind die Notaufnahmen in deutschen Krankenhäusern tatsächlich stark beansprucht, über 20 Millionen Patienten werden pro Jahr versorgt.

In der Rettungsstelle des Sankt-Gertrauden-Krankenhauses geht es an diesem Montagmorgen in den Sommerferien allerdings recht ruhig zu. Gerade einmal eine Handvoll Patienten sitzt um 11 Uhr im Wartezimmer. Der Raum ist karg, nur ein Kreuz ziert die Wand, darunter ein Schild, das darauf hinweist, das Handys auf der Station verboten sind. Stören tut sich daran niemand, die Wartenden tippen unbeeindruckt in ihre Smartphones.

Auf Nachfrage bringen alle im Raum einleuchtende Gründe dafür vor, dass sie hergekommen sind. Da ist der 36-Jährige mit Baseballkappe, der vor ein paar Tagen schon mal wegen eines Fahrradunfalls da war und nun erneut einbestellt wurde. Zwei Rippen habe er sich gebrochen, sagt er. Dann ist da der 44-jährige korpulente Mann, der mit gepresster Stimme von schlimmen Schmerzen im Bereich des Blinddarms berichtet. Oder die 62-jährige Frau, die mit starken Schmerzen im Oberschenkel in die Rettungsstelle kam, weil ihr regulärer Arzt im Urlaub ist. Bei einem anderen Spezialisten wären die Wartezeiten viel zu lang gewesen, sagt sie. „Ich hätte erst am Freitag einen Termin bekommen.“ Am Ende der Woche also.

Damit spricht sie aus, was wohl viele Patienten in die Notaufnahmen treibt. Wer als Kassenpatient zum Facharzt will, muss warten. Ziemlich lange mitunter. Kein Wunder, dass viele sich dann entscheiden, lieber direkt ins Krankenhaus zu kommen. Die Notaufnahme wird zum Notausgang für vernachlässigte Kassenpatienten.

Das scheint auch Gesundheitsminister Jens Spahn von der CDU erkannt zu haben. Ohne die Notaufnahmen explizit zu erwähnen, schlug er diese Woche Montag ein neues Gesetz vor, das Ärzten vorschreiben soll, mehr Sprechstunden für Kassenpatienten abzuhalten. 25 Stunden sollten es pro Woche sein, so der Minister. Bisher müssen Fachärzte wöchentlich mindestens 20 Sprechstunden anbieten.

„Wer hierherkommt, ist in Not, und wenn es die Not ist, sonst keinen Termin zu bekommen“

Dietmar Sander, Chefarzt

Könnte eine Erhöhung der Pflichtstunden für niedergelassene Ärzte, die Rettungsstellen entlasten oder braucht es zusätzlich doch Gebühren?

Einer, der das wissen könnte, ist Dietmar Sander. Als Chefarzt leitet er die Unfallchirurgie sowie die Orthopädie am Sankt-Gertrauden-Krankenhaus und ist damit auch Chef der Notaufnahme. Sander, 59, sieht aus, wie man sich einen Arzt vorstellt: hochgewachsen, Brille, ganz in Weiß. An diesem Morgen sitzt er gelassen auf einem Drehstuhl und spricht über seinen Job. Der ist ihm wichtig, das merkt man, immerhin arbeitet er seit 30 Jahren in der Klinik. „Ich bin eigentlich Inventar“, sagt er spöttisch. Fragt man ihn, wie viele Patienten denn täglich ohne schlüssigen Grund her kämen, wird er etwas schroff. „Die falsche Frage“, findet er. „Wer hierherkommt, ist in Not, und wenn es die Not ist, sonst keinen Termin zu bekommen.“

Dabei kommt es durchaus vor, dass die Ärztin in der Rettungsstelle den Patienten an einen niedergelassenen Kollegen überweist. Aber bevor ein Patient weitergeleitet werden kann, muss sie dennoch abklären, was das Problem ist.

Das kostet Zeit – und damit Geld. Von der Krankenkasse bekommt die Klinik für jeden Patienten, der tagsüber kommt und an eine andere Stelle verwiesen wird 4,74 Euro, nachts sind es 8,42 Euro. Für Patienten, die stattdessen tatsächlich weiter in der Notaufnahme behandelt werden, zahlen die Kassen 35 Euro. Aber auch dieser Satz decke im Schnitt nur rund ein Viertel der Kosten, sagt Chefarzt Sander.

Wenn kranke oder verletzte Kassenpatienten also keine Termin bei Fachärzten bekommen, haben auch die Kliniken das Nachsehen.

Es gibt aber auch jene Patienten, die die Notaufnahmen tatsächlich ausnutzen. Eine ältere Frau im Wartezimmer erzählt von Bekannten, die nur aus Bequemlichkeit in die Rettungsstelle gehen würden. Leiterin Susanne Schmidt bestätigt, dass manche Menschen tatsächlich nur kämen, weil sie hier in kurzer Zeit eine umfangreiche Diagnostik durchlaufen könnten, die es beim niedergelassen Arzt nicht so schnell gäbe. „Das nutzen viele aus.“

Solche Patienten ließen sich wohl auch mit kürzeren Wartezeiten beim Facharzt nicht davon abbringen, in die Notaufnahme zu kommen. Schmidt hält dennoch nicht viel von der Idee, Gebühren einzuführen. „Das kann man nicht machen“, meint sie. An ihrer Meinung ändern auch Fälle nichts, über die sie selbst schmunzeln muss. Etwa jener Patient, der dachte er sei von einer giftigen Spinne gebissen worden – die in diesen Breitengraden allerdings schlicht nicht vorkommt. Auch wegen Zecken-bissen seien schon Patienten in der Notfallaufnahme aufgetaucht, erzählt sie. „Die kommen auch nachts um drei.“

Solche leichten Fälle können die Station nach der Behandlung meist schnell wieder verlassen. Eine kurze Aufenthaltsdauer ist aber kein verlässlicher Hinweis dafür, dass ein Patient auf der Rettungsstelle nichts zu suchen hatte. Auch Menschen, die es schwerer getroffen hat, sind manchmal nach kurzer Zeit wieder weg.

So wie der etwas verwahrlost aussehende Mann, der definitiv zu viel Alkohol getrunken hat und früher am Morgen per Krankenwagen eingeliefert wurde. Passanten hatten ihn blutend und bewusstlos auf der Straße gefunden. Ein Notfall, keine Frage, dennoch verlässt er nun etwa drei Stunden später die Notaufnahme schon wieder auf eigenen Wunsch – wenn auch schwankend.

Dass Patienten wie dieser Mann so schnell wie möglich in eine Notaufnahme gehören, ist klar. Aber was ist mit den Zeckenbisspatienten? Gibt es nicht doch einen Weg, dafür zu sorgen, dass diese erst einmal zum Hausarzt gehen, ohne ihnen ansonsten 50 Euro abzunehmen?

Nachdem sein erster Vorschlag, gescheitert war, wagte KBV-Chef Gassen vor einigen Tagen einen neuen Vorstoß und regt nun an, dass Patienten im Zweifel zuerst die bereits bestehende Bereitschaftsdienstnummer 116117 anrufen und sich erkundigen sollen, ob ein Gang in die Notaufnahme notwendig ist. Oder, ob sie nicht besser eine niedergelassene Ärztin konsultieren sollen, am Telefon werden ihnen dann künftig auch Praxen vermittelt. Wenn es nach Jens Spahn geht, sind die Chancen dort schnell einen Termin zu kriegen in Zukunft ja deutlich besser.

Eine schöne Idee sei das, findet Chefarzt Sander.

Ein klärender Anruf hätte vermutlich auch im Falle der Frau geholfen, mit der sich Krankenschwester Schmidt „nur mit Händen und Füßen“ verständigen kann. Sie liegt wieder im Gang, es hat sich herausgestellt, dass sie schon länger an weißem Hautkrebs leidet und nun akute Probleme hat. Die können im Sankt-Gertrauden-Krankenhaus aber nicht behandelt werden, eine dermatologische Station gibt es nämlich nicht. Also wird die Frau nun in die nächste Klinik gefahren. „Die Reise geht weiter“, sagt Susanne Schmidt.

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