: Scheißwetter, aber tolle Musik
Punk, Dubstep und Derrida: Im Vereinten Königreich wurde nicht nur die Musik revolutioniert, sondern auch, wie darüber gesprochen wird. Doch was passiert, wenn der Brexit kommt? Das Festival „Wassermusik – Goodbye UK – and Thank You for the Music“ sucht Antworten
Von Stephanie Grimm
Der US-Art-Punk Ian Svenonius brachte die Situation Englands in seiner zugespitzten Kulturkritik „The Psychic Soviet“ (2006) ungefähr so auf den Punkt: Ohne die Beatles wäre England heute eine Art Portugal – nur mit schlechterem Wetter. Eine einstige Großmacht, wirtschaftlich schwächelnd, politisch eher insignifikant.
Wäre da nicht die Kultur. Schließlich haben die Briten vor allem im Pop vieles hervorgebracht, was den Rest der Welt durchaus interessierte: nicht nur die Beatles, sondern auch Prog- und Glamrock, Punk, New Wave, Acid House, Dubstep, und vieles mehr.
Wieso entstand ausgerechnet auf einer kleinen Insel am Rande Europas Musik, die Menschen in aller Welt bewegte – über Jahrzehnte hinweg? Diese Frage stellt das Wassermusik-Festival in diesem Jahr unter dem Motto „Goodbye UK – and Thank You for the Music.“ Anlass zu diesem Schwerpunkt ist der Brexit. Ein bisschen klingt das Motto deshalb unweigerlich auch nach einem „Und tschüss“ – zumindest in den Ohren der Autorin, die, wie so viele, sich das Land einst über den Pop erschloss und irritiert ist darüber, was auf der Insel dieser Tage so verhandelt wird. Doch ob nun bei der Wortwahl enttäuschte Liebe, Häme oder Humor mitschwingt: Aus dem Programm, das Detlef Diedrichsen, musikalischer Leiter im Haus der Kulturen der Welt und zusammen mit Martin Hossbach Kurator von „Wassermusik“ – im Gespräch enthusiastisch erläutert, spricht doch vor allem Bewunderung für die Popnation. Und nicht etwa eine Skepsis, ob Musik aus dem Vereinigten Königreich in einer globalisierten Welt überhaupt noch eine besondere Relevanz hat.
Seit elf Jahren gibt es das Festival nun schon, mit wechselnden regionalen Schwerpunkten, die jeweils global aufgefächert werden. „Wenn es je ein wirklich globales Thema bei dem Festival gegeben hat, dann dieses“, sagt Diedrichsen über die aktuelle Ausgabe.
Und so geht es bei den Konzerten, Filmen und Panels nicht nur um die Frage, wie diese besondere britische Kreativität entstand, sondern auch um ihre Rezeption im Rest der Welt. Auftreten wird unter anderem die Band Mexrrissey (Konzert am 4. 8.), die Morrissey und The Smiths mit spanischen Texten, Mariachi-Trompeten und anderen Latino-Elementen covert. Das ist ein schöner Kniff, mit dem man die Songs des einstigen Melancholikers aus Manchester wieder ertragen kann. Obwohl man ihm ja eigentlich kaum mehr zuhören möchte, seit er sein Leiden an der Welt in Verbitterung und politisch fragwürdige Äußerungen kanalisiert.
Pop und Theorie befruchteten sich
Derartige Aneignungen zeigen, dass Pop immer auch ein Austausch von Ideen ist. Viele vermeintlich originär britische Stile sind selbst das Ergebnis eines Dialogs – mit dem anderen großen Popland, den USA, allein aufgrund der gemeinsamen Sprache, aber auch mit den Einwanderern, die vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren nach Großbritannien kamen. Musiker aus der Karibik oder Westafrika etwa beeinflussten die englische Jazz-Szene, zu der wiederum Bands wie die Rolling Stones Berührungspunkte hatten. „London Is The Place For Me“ (Gespräch mit Lesung am 9. 8.) zeichnet nach, wie die afrokaribische Diaspora die britische Musikgeschichte mitgeprägt hat.
Eine weitere Besonderheit dieses Poplandes: Nicht nur Musikstile und Moden haben sich wechselseitig befeuert, auch das Nachdenken über Pop ist in Großbritannien zu einer akademischen Disziplin geworden. Einen zentralen Förderer beleuchtet der Dokumentarfilm „The Stuart Hall Project“, das leidenschaftliches Porträt des Filmemachers John Akomfrah über den 2014 verstorbenen Kulturtheoretiker.
Dass Pop und das Reden darüber in Großbritannien zugleich immer Gesellschaftsbetrachtung war – diese Einschätzung teilt auch Diedrichsen: „Auf welchem Niveau in den vielen Musikzeitschriften der siebziger und achtziger Jahre über neue Platten, Entwicklungen, Stile nachgedacht wurde – da ist die deutsche Popkritik mit wenigen Ausnahmen heute noch nicht angekommen.“ Die Produktion von Pop und die Reflektion darüber habe sich wechselseitig verstärkt. „Schließlich lasen das auch die Musiker“. Zudem kamen in Großbritannien von jeher viele Popmusiker aus dem Kunsthochschul-Milieu.
So auch Scritti Politti (Konzert am 18. 8.). Die aus der nordenglischen DIY-Szene hervorgegangen New Wave-Band illustriert die dialektische Beziehung zwischen Theorie und Pop. Ihre Songs waren zunächst mit marxistischer Theorie aufgeladen, bevor sich die Band in den achtziger Jahren dann dem fluffigem Soulpop zuwandte. Heute ist sie nur noch das Soloprojekt des Songschreibers Green Gartside, dessen Falsett-Stimme gerne Kant, Gramsci und Derrida zitiert hat.
Ein weiterer Festival-Höhepunkt aus der Rubrik „Alte Helden“ ist der Auftritt der The Zombies. Die Sixties-Band will ihr großartiges Album „Odessey and Oracle“ von 1968 performen (29. 7.).
Wer Grayson Perry noch nicht kennt, sollte das nachholen. Im Film „Divided Britain“ (Screening 2. 8.) untersucht die Künstlerin den Brexit und die Spaltung der britischen Gesellschaft. Vorab diskutiert taz-Themenchefin Katja Kullmann mit der Historikerin Rhian E. Jones und dem Politikwissenschaftler Philip Cunliffe über Klassenfragen.
In seiner Heimat hat sich Perry, der unter anderem auf hübschen Wandteppichen oder Vasen eine abgründige Gegenwart kommentiert und dabei gerne auf Popreferenzen zurückgreift, übrigens in den letzten Jahren zur einem „national treasure“ entwickelt. Eine Künstlerbiografie wie die jenes grenzenlos arbeitenden Crossdressers kann es wohl nur in Großbritannien geben. So gesehen gibt es tatsächlich Grund zu sagen: thank you. Nicht nur für die Musik.
Goodbye UK – and Thank You for the Music“, 27. 7.–18. 8. im Haus der Kulturen der Welt, Programm www.hkw.de, Abendkasse (zwei Konzerte & Film): 12–18 Euro, Festivalpass: 100 Euro
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