„Freie Gerichte!“, skandieren Tausende in Warschau

Ein Gesetz in Polen zwingt oberste Richter ab jetzt früher in den Ruhestand. Dagegen regt sich Protest – denn so kann sich die PiS-Regierung schnell einiger unliebsamer Richter entledigen

„Lasst uns nicht im Stich!“ Mit Sprechchören und Fahnen wandten sich die Demonstranten auch an die EU-Kommission Foto: Jaap Arriens/NurPhoto/picture alliance

Aus Warschau Gabriele Lesser

„Freie Gerichte! Freie Gerichte!“, skandieren am Mittwoch um 8 Uhr Tausende Demonstranten vor dem Obersten Gericht in Warschau. „Setzt die Richter nicht ab!“, rufen sie und „Verfassung! Verfassung!“. Viele standen schon am Abend zuvor mit Kerzen und EU-Flaggen vor dem Gericht und appellierten an die Europäische Kommission „Lasst uns nicht im Stich!“.

Als die Präsidentin des Obersten Gerichts, Małgorzata Gersdorf, vor dem Gericht erscheint, jubeln ihr die Menschen zu: „Dziękujemy! Wir danken Ihnen!“ Denn Gersdorf erscheint zur Arbeit. Dabei ist es der erste Tag ihrer Zwangsrente, in die sie die regierende nationalpopulistische Recht und Gerechtigkeit (PiS) und der ihr nahestehende Präsident Andrzej Duda schicken wollen. Nach einem Gesetz der Partei müssen Richter des Obersten Gerichts ab diesem Mittwoch bereits mit 65 statt bisher 70 Jahren in Rente gehen.

So kann sich die PiS rund 40 Prozent aller Richter am Obersten Gericht auf einen Schlag entledigen und Richter berufen lassen, die der PiS gegenüber loyal sind. Der Landesjustizrat, den die Partei allerdings auch schon unter ihre Kontrolle gebracht hat, nimmt die Berufungen vor.

Gersdorf kommt gleich wieder aus dem Gerichtsgebäude, um eine Ansprache an alle zu halten, die ihr solidarisch den Rücken stärken. „Ich mische mich nicht in die Politik ein“, so Gersdorf. „Ich bin hier, um die Rechtsstaatlichkeit in Polen zu beschützen und die Grenze zwischen der Verfassung und dem Verstoß gegen die Verfassung aufzuzeigen.“ Menschen könnten Fehler begehen, auch Politiker. Deshalb sei die Verfassung als Grundordnung der polnischen Demokratie so wichtig. Alle Polen hätten dieser 1997 verabschiedeten Verfassung in einem Referendum zugestimmt. Die gerade regierenden Politiker könnten natürlich Reformen des Gerichtswesens beschließen, doch dürften sie die vom Souverän sanktionierte Verfassung nicht verletzen.

Die PiS kann sichmit dem Gesetzrund 40 Prozent aller Obersten Richter entledigen

Das Grundgesetz Polens regele in Artikel 183 ganz klar, dass die Amtszeit der Präsidentin des Obersten Gerichts sechs Jahre beträgt und unabhängig vom erreichten Alter ist. Sie werde daher ihr Amt bis zum Jahr 2020 ausüben, so Gersdorf. Am Tag zuvor hatte sie den Richter Józef Iwulski zu ihrem Stellvertreter ernannt, der ihre Urlaubsvertretung übernehmen solle. Am Donnerstag will Gersdorf einen längeren Urlaub antreten, auch um weiteren Konflikten mit der Regierungspartei aus dem Weg zu gehen. Präsident Andrzej Duda ernannte Iwulski sogar als Gersdorfs Nachfolger, obwohl dieser noch älter als Gersdorf ist und nicht um eine Verlängerung seiner Amtszeit beim Präsidenten gebeten hatte.

Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki erntete am Mittwoch nach einer Rede im EU-Parlament in Straßburg harsche Kritik für die Justizreformen. „Zerstören Sie nicht die demokratische Kultur in Ihrem Land!“, forderte der Vorsitzende der europäischen Sozialdemokraten, Udo Bullmann (SPD). Morawiecki bekannte sich zur EU, betonte aber das Recht jedes Mitgliedslandes, sein Rechtssystem gemäß seiner eigenen Tradition zu gestalten. Die EU-Kommission hatte bereits am Montag ein neues Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen eingeleitet.

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