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800 Tage Gefangenschaft

Nedim Türfent dokumentierte rassistische Übergriffe der Polizei und wurde dafür zu neun Jahren Haft verurteilt. Hinter Gittern schreibt er Prosa

Von Barış Altıntaş

Durch die Provinz Van zu reisen ist eine metaphysische Erfahrung. Von atemberaubender Schönheit sind die imposanten Berge, die stillen Reisebegleiter, und der Vansee, dessen Wasser in tausend Tönen von Schwarz zu Grün, von Türkis zu Weiß changiert. Schaltet man dann auf dem Parkplatz des Hochsicherheitstrakts der Haftanstalt Van den Motor aus, ist es, als sei man auf einem anderen Planeten gelandet. Völlig im Gegensatz zur beruhigenden Stille der Natur erinnert der Bau mit seinen hässlich gelb getünchten Mauern an deprimierende Plattenbauten.

Hinter den Mauern dieser Haftanstalt sitzt Nedim Türfent, seit 800 Tagen abgeschnitten von der umwerfenden Schönheit des Vansees. Der Journalist hatte über ein Video berichtet, in dem Mitglieder eines Sondereinsatzkommandos in Yüksekova, einer Provinz an der südosttürkischen Grenze zu Syrien, bäuchlings auf dem Boden liegende gefesselte kurdische Zivilist*innen rassistisch beleidigten. Dafür wurde er am 13. Mai 2016 verhaftet, und am 15. Dezember 2017 wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation zu acht Jahren und neun Monaten Haft verurteilt.

8 Jahre, 9 Monate. Das sind 3.196 Tage in Haft

Gegen die Mitglieder der Spezialeinheit, die auf dem Video erkennbar sind, wurden Ermittlungen eingeleitet. Nach der Veröffentlichung seines Artikels, der den Vorfall bekannt machte, erhielt der Journalist Drohungen, sowohl von Privatpersonen in sozialen Netzwerken als auch von Polizisten. Bei seiner Festnahme 2016 wurde er von Polizisten körperlich misshandelt. Ein türkisches Gericht verurteilte ihn in einem einzigartigen Blitzverfahren. Zeugen, die gegen ihn ausgesagt hatten, erklärten, ihre Aussagen seien unter Folter zustande gekommen. Das war dem Gericht egal. Als „Beweise“ lagen lediglich seine Posts in sozialen Medien, seine Berichterstattung als Journalist und die Aussagen von Zeugen vor, die diese selbst als falsch bezeichneten. Dennoch wurde er zu acht Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Türfents Anwälte Veysel Ok und Barış Oflas weisen auf die zahlreichen Rechtsverletzungen in dem Verfahren gegen ihn hin. Es wurden unter Folter erpresste Zeugenaussagen verwendet, die Verhandlung fand in seiner Abwesenheit in Hakkari statt, während Türfent in dem 200 Kilometer entfernten Van im Gefängnis saß. Er sitzt in Isolationshaft.

Wenig Hoffnung auf Freispruch

Vor Kurzem legten die Anwälte den Fall des seit 800 Tagen inhaftierten Journalisten dem türkischen Verfassungsgericht vor. Sie fürchten allerdings, ihre Berufung ­gegen Haft und Urteil würde nichts fruchten. Anwalt Ok sagt dazu: „Beim Berufungsgericht sehen wir keine Chance auf Freilassung oder Freispruch.“ Dass Nedim Türfent wegen seiner journalistischen Tätigkeit insgesamt 19 Monate ohne Anklage inhaftiert war, bevor im Dezember 2017 das Urteil gesprochen wurde, verstoße gegen das in Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention verbriefte Recht auf Sicherheit und Freiheit, sagt Ok. „Nicht zuletzt aus diesem Grund muss sich das Verfassungsgericht mit unserem Antrag befassen.“ Während sich seine Anwälte draußen um ihn bemühen, ist Nedim Türfent auch „drinnen“ weiter produktiv. Er liest, schreibt, dichtet. „Ich bemühe mich, die Zeit in Gefangenschaft so bunt und lebendig wie möglich zu gestalten, und sei es indirekt. Dazu füge ich Wörter von hier und da zusammen“, schrieb er kürzlich in einem Brief an Kolleg*innen.

Dichten im Gefängnis gibt ihm Kraft

Türfent sagt, die Solidarität, die ihn hinter den Mauern erreicht, gebe ihm die Kraft, Gedichte zu schreiben. Obwohl er sich kaum traut, als Lyrik zu bezeichnen, was er schreibt. Damit seine Stimme und seine Verse am 800. Tag seiner Gefangenschaft der Welt zu Gehör kommen, bringen wir hier die letzten Verse eines Gedichts, das „durchaus lang zu nennen“ ist.

dein erde gewordenes herz

leite elixier in die adern

bringe fruchtbarkeit dem boden

aus den quellen hinter dem Berg Qaf.

noch der obulus für die eingebrachte ernte

sei dem leben silberner schlüssel.

dem bauern

dem knecht

dem tagelöhner

heilmittel sei dein herz

dem notleidenden

sei ihm angemessen.

es streiche salbe

auf die gebrochenen flügel der vögel

es sei auge und ohr

den kollektiv schaffenden ameisen

uneigennützig sei es.

freigebig sei dein herzgebe den schmetterlingen einen extra tag lebenszeit.

lebensquelle sei es

der gebärmutter gleich.

kristallklar sei schließlich dein herz

wasserfarben.

verwelktes lasse es grünen

immerzu.

es trinke milch an der sonne schnee­weißer brust

es stille, wer dessen bedarf.

mit dem zaubertrank des lebens

belebe dein herz

den leblosen …

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

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