„Kohl hat Kreuth für Verrat gehalten“

Norbert Blüm82, war 1976 in der Bundestagsfraktion und im CDU-Bundesvorstand. Den Unionsstreit und Machtkampf der beiden Parteichefs Strauß und Kohl erlebte er aus nächster Nähe.

Interview Stefan Reinecke

taz: Herr Blüm, war vor Kreuth absehbar, dass die CSU die Fraktion verlassen würde?

Norbert Blüm:Der Strauß hat sich dauernd über Helmut Kohl lustig gemacht und ihn zum Depp erklärt.

Wie hat Kohl reagiert?

Der hat Strauß ganz ruhig in Watte laufen lassen. Strauß war wie ein wild gewordener Stier, Kohl das rote Tuch.

Wie hat die CDU-Führung auf Kreuth geantwortet?

Wir haben sofort die Ausweitung der CDU in den Freistaat Bayern ins Auge gefasst. Und wir hatten in der CSU Sympathisanten: den Wirtschaftsminister Jaumann, den Fraktionschef Lang, Theo Waigel, den JU-Chef in Bayern. Das waren nicht nur Kreisvorsitzende.

Warum ist der Aufstand der CSU zusammengebrochen?

Einige haben Angst vor der eigenen Courage bekommen. Es ist ja leichter, in Kreuth heldenhafte Vorhaben zu fassen, als die auch umzusetzen. Politik spielt nicht nur im Bundestag, sondern auch im Kommunalen. Da hatten viele Muffensausen, ihr Mandat in Kreistagen und Stadträten zu verlieren. Kommunalpolitiker sind für ideologische Kreuzzüge nicht besonders geeignet.

Was war mit den CDU-Rechten wie Dregger? Die hatten doch Sympathien für den scharfen Kurs der CSU …

Ja, aber nicht für eine Trennung. Bei Dregger kamen alte soldatische Ehrbegriffe zum Vorschein: Man verlässt die Kompanie nicht. Das ist keine Kategorie, in der ich denke. Aber das war 1976 sehr hilfreich. Es gab überall in der Republik innerhalb der CDU Freundeskreise der CSU. Doch die waren, als es drauf ankam, nicht so heroisch, wie Strauß es erwartet hatte. Die CDU war entschlossen in diesem Streit.

Kam die Entschlusskraft von Kohl?

Ja, der war ja ein Gefühlspolitiker. Und Gefühle sind in solchen Momenten wichtiger als strategische Begabung. Kohl hatte begriffen: Die Familie ist in Gefahr. Die Familie muss zusammenhalten. Er hat Kreuth für Verrat gehalten. Deshalb war er dagegen.

Hat Strauß Kohl unterschätzt?

Ja, er hat ihn wie einen Junge-Union-Vorsitzenden behandelt. Aber Kohl hat nicht gewackelt. Auch die, die schwankten, merkten: Der Kohl geht eher über die Klinge, als die Spaltung mitzumachen.

Sehen Sie Parallelen zu heute?

Das Gefühl ist anders.

Inwiefern?

Das ist nicht präzise formuliert: Es ist kälter. Es sind zwar auch alte Rechnungen und Beleidigtsein im Spiel. Aber die Heftigkeit ist nicht so da. 1976 waren die Parteien noch ideologischer und fester in den Milieus verankert. Ein Gewerkschafter war in der SPD, ein Messdiener in der CDU. Ich will nicht nostalgisch klingen: Aber das ist vorbei. Und diese Bindungen waren der Kitt, der in kniffligen Situationen zusammengehalten hat.

1976 war ein Machtkampf. Inhaltlich gab es kaum Streit …

Stimmt, obwohl Geißler und ich als Herz-Jesu-Marxisten verschrien waren – wir waren nur Varianten. Jetzt geht’s um die Frage: Zurück zum Nationalen ins 19. Jahrhundert oder nach Europa ins 21. Jahrhundert? Das sind keine Varianten, das sind Alternativen. Der CSU geht es zudem um Taktik, darum, die AfD in den Griff zu bekommen. Aber die AfD wird immer einen Schritt weiter rechts sein. Das ist wie der Wettlauf von Hase und Igel. Die AfD sitzt immer schon am Ende der Ackerfurche, wenn die CSU dort ankommt.