Merkel mittendrin statt wirklich dabei

Seit 2001 gibt es den Weltflüchtlingstag. Doch nie wurde mehr über Flüchtlinge geredet als heute. EU-Kommissionspräsident Juncker ruft zur Sondersitzung. Es geht um die Rettung der EU. Und die Merkels

Keine Rettung: Die Bootsflüchtlinge, die am Montag aus dem Mittelmeer gefischt wurden, sind nun wieder in Libyen Foto: Ismail Zitouny/reuters

Aus Berlin und Brüssel Eric Bonse
und Pascal Beucker

Am Morgen wandten sich Wissenschaftler und Intellektuelle mit einem Aufruf „Solidarität statt Heimat“ gegen den Kurs von Innenminister Horst Seehofer. „Die Talfahrt des Rechtsstaates, des Asylrechts und der öffentlichen Debatte erreicht alle drei Tage einen nächsten Tiefpunkt“, so Sabine Hess, Professorin für Kulturanthropologie in Göttingen. Der Asylstreit zwischen CSU und CDU liege auf dieser Linie: „Innenminister Seehofer fordert dabei offen zum Bruch europäischen Rechts auf im rechtspopulistischen Überbietungswettbewerb.“

Stephan Lessenich, Professor für Soziologie in München, Mitverfasser des Aufrufs, sagte, der größte Erfolg der AfD sei nicht ihr Einzug in den Bundestag gewesen. „Ihr mit Abstand größter Erfolg ist, dass man sich in diesem Land wieder hemmungslos menschenverachtend ­geben und äußern kann.“

Zur gleichen Zeit in Berlin: Das Bundeskabinett bestätigt den Juristen Hans-Eckhard Sommer (CSU) als neuen Präsidenten des Bundesamtes für Asyl und Migration. Der gilt als Hardliner in Sachen Asylrecht. „Wir werden selbstverständlich an kurzen Asylverfahrenszeiten festhalten, festhalten müssen“, sagte Sommer. Entscheidungen sollten in der Regel binnen drei Monate fallen.

Die bayrische Landesregierung dementierte nach Sommers Ernennung, dass dieser früher beim Verfassungsschutz gearbeitet hat. Diese Information war der taz Anfang der Woche aus bayrischen Sicherheitskreisen bestätigt worden. Dies sei ein Missverständnis gewesen, hieß es nun.

Sommers „allerwichtigste Aufgabe wird sein, dass er das Personal des Bamf zusammenführt und motiviert“, sagte Seehofer. Die Behörde brauche motivierte Mitarbeiter, die sich als Familie verstünden. Er habe das Einverständnis von Bundes­finanzminister Olaf Scholz (SPD) für die Entfristung von mehr als 3.000 befristeten Stellen bei der Nürnberger Behörde.

Nach der Sitzung nahmen Seehofer und Merkel gemeinsam an der Gedenkfeier der Bundesregierung für die Opfer von Flucht und Vertreibung im Deutschen Historischen Museum in Berlin statt. Zwischenzeitlich hatte es geheißen, Seehofer würde absagen. Doch dann saß er in der ersten Reihe, als Merkel die Festrede hielt.

Sie nutzte sie, um sich klar gegenüber Seehofer abzugrenzen. „Migration ist eine europäische Herausforderung, vielleicht unsere größter Herausforderung“, sagte Merkel. „Es geht um den Zusammenhalt der EU.“ An dieser Stelle unterbrach das Publikum sie mit langem Applaus. Es bedürfe klarer Regeln dazu, „wer kommen und wer bleiben darf“, sagte Merkel. Doch es liege „im tiefsten Interesse unserer Länder, Europa zusammenzuhalten und diese Fragen gemeinsam zu lösen. Es würde nicht gut sein, wenn das jeder zulasten des anderen täte.“ Die Formulierung wird sie mit Bedacht gewählt habe: Genau darauf läuft schließlich hinaus, was Seehofer derzeit so brachial zu erzwingen versucht.

Direkt nach ihrer Ansprache brach Merkel auf zu einer Reise nach Libanon und Jordanien. Beide Länder hatten im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl besonders viele Syrien-Flüchtlinge aufgenommen. „Wir haben erkannt, wie wichtig es ist, heimatnah die Bildungsmöglichkeiten zu unterstützen“, sagte Merkel.

Dass dies auch für jene Flüchtlinge gilt, die fern der Heimat sind, darauf wies am Mittwoch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hin. Sie präsentierte ihren Jahresmigrationsbericht und ging auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit durch Zuwanderung ein. In Ländern mit einem „starkem Zustrom von Flüchtlingen“ wie Schweden, Deutschland und Österreich machten Migranten vor allem „Männern mit geringer Bildung“ Konkurrenz, so der Bericht. Die OECD riet dazu, nicht nur die Integration der Flüchtlinge zu fördern, sondern „die politische Unterstützung für gering ausgebildete Männer zu verstärken“.

Für Deutschland prognostizierte sie einen möglichen Anstieg der Arbeitslosigkeit durch die Flüchtlinge um 6 Prozent bis zum Jahr 2020. Ein Zuwachs um 6 Prozent würde etwa 138.000 Arbeitslose mehr bedeuten, die Quote läge dann statt bei 5,1 – ein Rekordtief, wie es seit der Wiedervereinigung nicht verzeichnet wurde – bei 5,4 Prozent. Noch immer ein Wert, von dem viele EU-Staaten nur träumen können.

Es liegt im tiefsten Interesse unserer Länder, Europa zusammenzuhalten

Kanzlerin Angela Merkel

Derweil erhielt Merkel Schützenhilfe aus Brüssel. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker berief für Sonntag einen Sondergipfel ein, um eine „europäische Lösung“ zu suchen. Neben Merkel sollen die Staats- und Regierungschefs aus Frankreich, Österreich, Griechenland, Italien, Spanien und Bulgarien teilnehmen. Offiziell geht es zwar nur um ein „informelles Arbeitstreffen“, mit dem der EU-Gipfel Ende kommender Woche vorbereitet werden soll. Doch in der Sache hat sich Juncker der Position der deutschen Kanzlerin angenähert. Es gehe darum, „an europäischen Lösungen zu arbeiten“, sagte er.

Vor zwei Wochen klang das noch ganz anders. Bei einem Treffen mit dem österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz in Brüssel hatte Juncker sich hinter dessen Plan gestellt, die „Sicherung der Außengrenzen“ zur absoluten Priorität zu erklären. Wieso der Kommissionschef nun plötzlich auf Merkel-Kurs umgeschwenkt ist, dazu schwiegen seine Sprecher. Sie wollten sich nicht einmal zu der entscheidenden Frage äußern, ob die Dublin-Verordnung die Zurückweisung von Aslybewerbern an der deutschen Grenze erlaubt, wie dies Seehofer fordert. Im aktuellen Streit geht es ihr vor allem darum, eine Ausweitung der Krise zu verhindern.

Denn nicht nur Bayern be­reitet der EU Sorgen, auch Ungarn und Polen. Die Osteuropäer verweigern sich der „europäischen Lösung“, wie sie bisher diskutiert wurde – also einer Umverteilung von Flüchtlingen aus Italien und Griechenland auf alle EU-Länder. Aber auch in Südeuropa gibt es ein Problem. So will die neue Regierung in Italien keine Flüchtlingsboote von Hilfsorganisatio­nen mehr in ihre Häfen einlaufen lassen.

Vor diesem Hintergrund erscheint die für das EU-Treffen am Sonntag anvisierte „europäische Lösung“ als Etikettenschwindel. Im Vordergrund dürften dabei nämlich bilaterale Rücknahmeabkommen für Abschiebungen innerhalb Europas und nicht etwa die Aufnahme von Asylbewerbern und ihre solidarische Umverteilung. Doch selbst unter diesen Vorzeichen ist ein Erfolg alles andere als sicher. Bisher hat nur Frankreich bilaterale Absprachen zugesagt. Italiens Ministerpräsident Giu­seppe Conte zeigte sich dagegen ausgesprochen zurückhaltend. Und aus Griechenland kommen bisher nur Fragen, keine Zusagen.

Optimistischer klang es aus Malta: Er freue sich, zu einer „abgestimmten europäischen Antwort“ auf die Migrationsherausforderung beizutragen, schrieb Regierungschef Joseph Muscat auf Twitter. Im Streit um die „Aquarius“ hatte Malta jedoch seine Häfen dicht gemacht. Wenn es um eine „europäische Lösung“ geht, zeigt jeder auf den anderen.