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Bloß keine Nestbeschmutzung

Ehemalige Verantwortliche lassen sich aus einem Film zur Geschichte der Alsterdorfer Anstalten herausschneiden. Statt nur zehn Minuten sprechen sie lieber gar nicht

Von Marthe Ruddat

Pastor Alfred Lampe hatte einen durchaus klaren Blick auf die Bedingungen, die bis Ende der 70er-Jahre in den Alsterdorfer Anstalten herrschten: Wachsäle habe er gesehen, das Haus Karlsruh habe ihn erschüttert, sagte er in einem Interview. Aber auch: „Die so genannten Zustände, von denen sie eben sprachen, habe ich so nicht erlebt als Zustände.“

Lampes Aussagen bekamen nur die Premieren-Besucher*Innen des Dokumentarfilms „Die Alsterdorfer Passion“ zu sehen, für den Lampe das Interview gab. Der Film beschäftigt sich mit den menschenverachtenden Zuständen in den Alsterdorfer Anstalten nach 1945 und lässt Betroffene und Mitarbeiter*Innen zu Wort kommen. Und eigentlich auch Verantwortliche von damals. Doch aus der aktuellsten Version wurde Pastor Lampe herausgeschnitten, so wie der ehemalige Pflegedienstleiter Georg Schade. Die beiden fühlten sich diffamiert, drängten nach der Premiere im März massiv darauf, wieder aus dem Film genommen zu werden, wie Michael Wunder von den Alsterdorfer Anstalten sagt.

Tagelang ans Bett gefesselt

Die Wachsäle und das Haus Karlsruh stehen symbolisch für das, was bis Ende der siebziger Jahre in den Alsterdorfer Anstalten passierte: In den Gruppenunterkünften wurden die Menschen teilweise tagelang an ihre Betten gefesselt; es gab psychische und physische Gewalt, Zwangssterilisationen.

Alfred Lampe war von Anfang der 70er-Jahre bis Anfang der 90er Pastor und Seelsorger in Alsterdorf. Er sei anfangs für die Gottesdienste verantwortlich gewesen und habe dort einige Reformen angestoßen, sagt Lampe in dem verschwundenen Interview. So habe er gemeinsam mit anderen Verantwortlichen dafür gesorgt, dass Männer und Frauen in der Kirche nicht mehr getrennt sitzen mussten. Einer, der ihn bei diesen Veränderungen unterstützte, war der damalige Pflegedienstleiter des männlichen Bereichs, Georg Schade. Für andere Veränderungen zeigte sich Schade damals aber weniger offen.

In den siebziger Jahren formierte sich Widerstand unter den Angestellten in Alsterdorf. Einige Mitarbeiter*Innen gründeten den „Kollegenkreis Alsterdorf“. Sie prangerten auf Flugblättern die Missstände in der Einrichtung an, forderten bessere Lebensbedingungen für die Bewohner*Innen. Die Verbreitung solcher „Halbwahrheiten“ wurde sofort untersagt. Weil der Kollegenkreis aber nicht aufgab, folgte unter Georg Schade für einige die Kündigung.

„Es war im Grunde eine Nestbeschmutzung“, sagt Georg Schade in der Premierenversion des Alsterdorf-Films über den Kollegenkreis. Er steht vor einer Pinnwand, darauf sind Fotos von verschiedenen Veranstaltungen in den Alsterdorfer Anstalten gepinnt. Als er nach Alsterdorf kam, seien auch für ihn die Zustände schockierend gewesen, erzählt Schade. In seinen Augen fehlte schlicht das Geld. Er habe deshalb angefangen, durch Wohltätigkeitsveranstaltungen selbst Gelder zu beschaffen und schließlich die erste, kleinere Wohngruppe außerhalb des Anstaltsgeländes gegründet. Trotzdem seien die Aktivitäten des Kollegenkreises „belastend“ gewesen, auch für die Mitarbeiter*Innen. Es sei zwar einiges längst noch nicht in Ordnung gewesen, aber „die Zeit war einfach noch nicht da, um das zu erreichen bei den Mitarbeitern, den Verantwortlichen und bei der Behörde“.

Nachdem das Zeit Magazin 1979 ausführlich über die Alsterdorfer Anstalten und seine Bewohner*Innen berichtete, wurde der öffentliche Druck groß. Als Folge wurden die Pflegesätze deutlich erhöht und Gelder für den Bau neuer Häuser zur Verfügung gestellt.

Die heutige Evangelische Stiftung Alsterdorf setzt sich kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinander. Sie brachte ein Buch über die Anstalt im Nationalsozialismus heraus. Stolpersteine und eine Gedenktafel erinnern an die Opfer.

Auch der Nachkriegszeit wurde ein Buch gewidmet. Der neue Dokumentarfilm ergänzt laut Webseite die Aufarbeitung dieser Zeit. Gemeinsam mit der Landeszentrale für politische Bildung stellte die Stiftung die notwendigen Gelder bereit. Nachdem die Macher zunächst nur Betroffene und ehemalige Mitarbeiter*Innen interviewt hatten, sollten nach dem Willen der Stiftung auch Verantwortliche von damals zu Wort kommen. Georg Schade und Alfred Lampe stimmten der Mitwirkung an dem Film zu.

Nach der Premiere änderten sie ihre Meinung. Der taz sagte Lampe zu seinem Rückzug, der Film sei „einseitig und unausgewogen“. Er und Schade seien nur zehn Minuten zu sehen, die „anderen“ 55 Minuten. „Das ergibt ja ein ganz falsches Bild.“ In einem Leserbrief in der Evangelischen Zeitung wurde der Pastor Ende April noch deutlicher: Es habe zwar Missstände gegeben, doch dürfte die „teilweise entbehrungsvolle und liebevolle“ Arbeit vieler Schwestern und Mitarbeiter nicht herabgewürdigt werden. „Das gesamte Leben in Alsterdorf, Bewohner wie Mitarbeiter, war nach dem Krieg grundsätzlich nicht menschen- und behindertenverachtend“, schrieb der Pastor.

Filmemacher verwundert

Dass Schade und Lampe mit ihrer Zensurforderung durchkamen, liegt zum einen daran, dass sie keine Einverständniserklärung unterschreiben mussten, so wie es im Dokumentarfilm üblich ist. Darüber hinaus wollte die Alsterdorfer Stiftung wohl auch keinen Rechtsstreit riskieren. „Für die Stiftung war es selbstverständlich, die Beiträge von Pastor Lampe und Herrn Schade aus dem Film herauszunehmen“, sagte ein Sprecher.

Die Filmemacher zeigten sich verwundert über Lampes und Schades Vorgehen. „Der Film ist keineswegs verunglimpfend“, sagte Bertram Rotermund. Dennoch sind die Autoren mit dem Film in seiner jetzigen und endgültigen Fassung einverstanden, weil er ihrer ersten Version entspricht. Rotermund und sein Kollege Rudolf Simon wollten vor allem die Betroffenen zu Wort kommen lassen; Schade und Lampe waren nur auf Wunsch der Stiftung dazugekommen. Im Abspann des Films ist nun zu lesen, dass leider keine Verantwortlichen der damaligen Zeit bereit waren, an dem Film mitzuwirken.

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