Debatte 20 Jahre Viagra: Diese Pille ist ein Segen

Viele kritisieren, Viagra zwinge Männern das phallische Steilheitsmodell auf. Dabei hilft es ihnen dabei, sich kommunikationsfähig zu fühlen.

Eine Tablette Viagra auf der Medikamentenverpackung

Stimuliert die Erektion nur, wenn grundsätzlich im Mann eine sexualisierte Stimmung da ist: Viagra Foto: Imago/imagebroker/Michael Weber

Die taz schrieb damals etwas von einem Angriff auf die Frauen durch den industriell-pharmakologischen Komplex: So war die Wahrnehmung in unseren Kreisen, als die US-amerikanische Firma Pfizer vor zwanzig Jahren eine Pille in die globalen Märkte lancierte, die Männern Hoffnung gab.

Der Name für dieses als Medikament bezeichnete Mittel, so schreibt die Sozialwissenschaftlerin Claudia Sontowski in der Recherche zu ihrer Doktor*innenarbeit, wurde aus Begriffen gemischt, „Vigor“, das bedeutet im Englischen „Kraft“, und „Niagara“, was keine Übersetzung nötig hat und nichts als mächtige Ströme signalisiert.

In Summe war es schließlich der Name, der auf Anhieb Furore machte: Viagra. Ein Name, eine begriffliche Vorstellung, die allerdings auch nicht überpräzise war. Was es macht, musste ausprobiert werden: niedlich babyblau gefärbt, klassisch gepresst zu einer ansehnlichen Trapezförmigkeit.

Eigentlich hatte Pfizer die komplizierte Wirkstoffformel getestet, um herzkranken Menschen zu helfen. Evaluiert wurde aber, dass es den Klienten zwar auch koronar besser ging, diese jedoch vor allem, trotz fortgeschrittenster Altersstufen, über tüchtig pulsierende Erektionen nach Einnahme der Mittel berichteten. So kam Viagra in die Welt – als Hilfsmittel, damit das Phallische nicht nur behauptet wird, sondern auch tatsächlich erwächst.

Und was das Mittel für eine Karriere machte. Milliardenfach wurde es gekauft, leider auch viel zu oft nicht auf ärztliche Rezepte, sondern per Internet aus Asien: Meist sind in diesen Produkten falsche Bestandteile enthalten – oft Streckmittel obskurster Art oder ecstasyähnliche Komponenten. Gesund war und ist das nicht – aber gegen Viagra oder ähnliche Mittel (Cialis, Levitra, Spetra) hat in der Regel eine ärztliche Person etwas einzuwenden. Was sie nur immer wieder sagen, ist dies: Der PDE-5-Hemmer, der diesen Medikamenten zugrunde liegt, stimuliert die Erektion nur, wenn grundsätzlich im Mann eine sexualisierte Stimmung vorhanden ist. Nehmen und auf Sexualisierung hoffen: Das geht einfach nicht.

Kulturkritik aus der feministischen Ecke

Viagra fand und findet weiträumigen Konsum in der Pornoindustrie, in Sexclubs (gleich ob Homo oder Hetero), und in allen Sphären zeigt sich dies: Ein Mann, der dem Sexuellen nachsteigt und auch in den richtigen Moves ist – dann aber keinen hochkriegt – ist ein unglückliches Subjekt. Jahrzehnte, ja, Jahrhunderte lang haben Männer versucht, die organischen Folgen des Älterwerdens wenigstens manchmal zu lindern. Nashornpulver, Schildplattpaste oder andere, durch die Bank nutzlose Mittel wurden von Männern genommen, um sexuell nicht als alt, unfähig und impotent wahrgenommen zu werden.

Die Kulturkritik an Viagra, gern aus feministischer Ecke, das Medikament zwinge Männern das phallische Steilheitsmodell auf, auf dass sie Frauen weiter vergewaltigen können, missachtete stets, dass Viagra Männern – gleich, wo sie leben, gleich, welcher Klasse sie angehören – hilft, sich kommunikationsfähig zu fühlen, auch erotisch und sexuell.

Die Sexualwissenschaftlerin Sophinette Becker kennt aus klinischer Praxis die Leiden von Männern, die die körperlich-erotisierte Dimension von Kommunikation nicht mehr anbahnen können, weil er nicht mehr stehen kann. Sei es aus Stress oder aufgrund einer Erkrankung, sei es aus sonstigen Gründen: Viagra sei jedoch nur, aber immerhin, möchte man sagen, „eine Anschubfinanzierung“, um die Fähigkeit zur Erektilität überhaupt wieder zu ermöglichen.

Was auch bei Sophinette Becker nur fragmentarisch durchschimmert, ist ja zugleich auch dies: Sexualwissenschaftlich belastbare Untersuchungen zum sexuellen Empfinden bei Frauen gibt es auch nicht viele, aber doch ein öffentlich geäußertes Unbehagen an dem, was (in der Regel heterosexuellen) Frauen durch Männer zugemutet wird. Die #MeToo-Debatte trägt das ihre dazu bei, das wirkliche Wollen von Frauen im Sexuellen zu erörtern. G-Punkt, klitoraler oder vaginaler Orgasmus, erogene Zonen – Frauen und ihre Probleme werden als komplex und unüberhörbar wahrgenommen, gut so.

Aber Männer? Es gibt definitiv keine langfristig angelegte, breit gesampelte Untersuchung zu den sexuellen Vorstellungen, Fantasien und Hoffnungen, die sich den Männern im Speziellen widmet. Öffentlich bleibt so der Eindruck: alles Penis, alles Schwanz, alles schnell und mit Schuss. Dass das nicht die Realität männlicher Lebensweisen trifft, wissen am allerbesten Sexarbeiterinnen, die davon erzählen können, wie empfindsam ein männlicher Körper reagiert – und wie beschämend es für einen Mann ist, sexualisiert keinen erigierten Penis zu haben.

Das Selbstvertrauen, sexuell fähig zu sein

Insofern war die Einführung von Viagra ein Segen – und ist es noch. Es ist kein Medikament, wie es in vielen medialen Geburtstagsständchen anklingt, der neoliberalen Selbstoptimierung, ein Doping unstatthafter Art, ein chemisch-pharmakologischer Streich wider die Natur. Solche Vorstellungen leben von der grausigen Idee, Männer sollen nicht mehr Sex haben können, wenn sie zu alt sind, wenn sie das juvenile Hochhormonlevel verlassen haben – und wenn sie geraucht und getrunken und entgrenzt gelebt haben.

Denn ein steifer Schwanz, so berichten es Patienten in der intimen Situation therapeutischer Settings, sei ja auch der Partnerin, der Geliebten gegenüber ein Zeichen, dass er sie noch will, dass er präsentabel ist, dass er, wie es landläufig heißt, „noch seinen Mann steht“. Gegen diese archaischen Bilder mit vulgär-feministischer Kritik angehen zu wollen – so von wegen: ach, kommt doch nicht drauf an, schmusen ist doch auch schön – verkennt den Kern psychischer Gesundheit von Erwachsenen. Denn die speist sich auch aus dem Selbstvertrauen, sexuell fähig zu sein.

Die Psychoanalytikerin Ilka Quindeau räumte im taz-Gespräch vor drei Jahren mit der Mär auf, Viagra sei ein Mittel der alten Säcke: Aus ihrer Praxis weiß sie, dass auch Jüngere das Mittel parat halten. Aus diesem kleinen Hinweis ließe sich eine wahrhaftige Kulturkritik basteln: Dass Junge, gleich ob Frauen oder Männer, offenbar denken, dass Sexuelles wie ein Maschinenwerk zu verrichten sei.

Dabei meint Sexuelles viel mehr, als Christen es wünschen: Vor allem Begehren muss vorhanden sein, Verlangen, Wunsch nach Überwältigung und Überwältigtwerden. Dass es dies nicht eben oft im Leben gibt, wäre mal ins Bewusstsein zu werfen. Dass stupendeste Geilheit, wahrhaftige Raserei um das Verlangen der anderen Person ein rares Gut ist – aber im Alter, auch dann, gelegentlich eine gewisse pharmakologische Hilfe nötig hat.

Und wenn das einmal akzeptiert ist, dass eben Viagra and all that jazz ein Segen sein können, ließe sich endlich über das Sexuelle bei Männern reden. Worauf sie abfahren, was sie stimuliert, was sie möchten – und nicht mögen. Schnelles auch, nicht nur Schmusiges. Ambulantes, Hitziges – nicht nur Balanciertes. Jedenfalls gäbe es garantiert Überraschungen zu erfahren, weil dann nicht mehr nur in den üblichen Klischees gedacht werden könnte.

Thema mit größter Beschämungsfähigkeit

Die Vermutung, Viagra sei eine Lifestyledroge, ist pure Unterstellung: Die Angst der Männer vor Impotenz, die Freude über die körperliche Fähigkeit, Erregung auch plastisch zu dokumentieren, gehört zum identitären Kern der Selbstvorstellung von dem, was ein Mann ist. Und nicht nur, welchem Lebensstil er frönt.

Insofern ist es auch kein Wunder, dass es kein echtes Reden, weder unter Männern noch von diesen mit Frauen, über Furcht vor sexueller Unzulänglichkeit gibt. Und Impotenz gilt als größte unter ihnen: Sexuelle ­Potenz ist ein Thema mit größter Beschämungsfähigkeit, viel mehr als nur eine Sache, die „untenrum“ ist.

Der kulturkritische Missmut zum Thema Viagra jedenfalls verdeckt die eigentliche Not: Nicht wirklich etwas über das Sexuelle von Männern, in all ihren Verschiedenheiten, zu wissen. Darüber mit wissenschaftlicher Akribie mehr herauszufinden, es würde lohnen!

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